nähern.
Die unselige Verzeichnung der mittelalterlichen Handelskontakte als "Ostlandfahrt" kulturell überlegener deutscher Kolonisatoren, die den unorganisierten Slawen und Balten die Zivilisation beibrachten - diese imperialistische, später faschistische Fehldeutung, wie sie in der deutschen Wissenschaft bis weit in die siebziger Jahre hinein in abgemilderter Form von den munter weiterproduzierenden braunen Historikern unters Volk gemischt wurde, ist mit der neuen Darstellung endlich vom Tisch.
Als profunder Kenner der Sekundärliteratur beschreibt Hammel-Kiesow genau, wie die kaufmännischen Schwurverbände Norddeutschlands im profitablen Handel gen Norden und Nordosten sich zwangsläufig zu einer Zweckgemeinschaft zusammenschlossen, ohne sich je einem Städtebund oder gar einer protostaatlichen Organisationsform zu nähern. Mit großer Souveränität arbeitet Kiesow die politischen und ökonomischen Konjunkturverläufe zwischen 1100 und 1600 heraus, die den Eigenarten des Hansehandels entgegenkamen: die relative Schwäche adliger Grundherren in Norddeutschland nach der Entmachtung der Welfen, die Abhängigkeit Norwegens, zuweilen auch Englands von den Importen der deutschen Fernhändler, die technische Überlegenheit der seefahrenden Kaufleute gegenüber dem Grundadel daheim und in der Ferne, das eiskalte Ausschalten der Pioniere im gotländischen Visby durch die Lübecker Kaufmannschaft und den zähen, am Ende freilich vergeblichen Versuch, das Monopol der Sunddurchfahrt für Lübeck und Konsorten gegenüber holländischen und britischen Händlern zu verteidigen.
Hammel-Kiesow ist nicht mehr geblendet von der Hegelschen Staatslehre, die es den Historikern des Wilhelminismus unmöglich machte, einen molluskenhaften Zweckverband wie die Hanse zu erfassen. Anstatt die Phänomene durch die unpassende Einordnung unter nationale Kriterien zu verbiegen, sieht der Autor klar, daß die Organisation einzig profitablen Handelszwecken diente, daß dafür nur in Notfällen teure Kriegshandlungen, so gut wie nie eine Einmischung in anderstädtische Unruhen und niemals Territorialstaatlichkeit vonnöten waren. Hier liegt, möchte man hinzufügen, eine Parallele zu manchem Wirtschaftsboom der Gegenwart, der auch eher gegen und ohne den Staat als durch politische Initiative möglich wurde. Wieweit sich diese durch und durch trocken-pragmatische Organisation mit ihren Stadtkunstwerken, Backsteinkirchen, ihrer mittelniederdeutschen Literatur in der Kultur und der Mentalität des heutigen Deutschland niedergeschlagen hat, bleibt beim eher nüchternen Handbuchstil des Buches leider zu sehr im Düstern.
Daß Hammel-Kiesow kein großer Stilist ist und er manche Sachverhalte im juristischen Soziolekt herunterbetet, verbindet ihn mit der Mehrzahl seiner deutschen Historikerkollegen, die ihre Kunst wie einen Buchhalterjob betreiben und vor der genuinen historischen Erzählung zurückschrecken. Dafür aber finden sich bei Hammel-Kiesow staunenswert viele sozial- und handelshistorische Details des Verlaufs einer Epoche, die sich nur so schwer auf den Nenner "Hanse" bringen läßt, daß man zuweilen an der Berechtigung dieses Ordnungsbegriffes zweifelt. Hanse war, das sieht auch der Autor kaum anders, eher ein geschichtlicher Handlungsstil konjunkturell erfolgreicher Pfeffersäcke denn ein konziser politischer Aufbau.
Größtes Manko dieses an sich verdienstvollen Buches bleibt indes, daß Hammel-Kiesow, immerhin seit 1993 Leiter der Lübecker "Forschungsstelle für die Geschichte der Hanse und des Ostseeraums", allzu sehr auf einen wissenschaftlichen Gewährsmann setzt: die rechtshistorische Abklärung der hansischen Entstehungsbedingungen durch den Historiker Ernst Pitz. Dessen ordentliche, für eine Gesamtdarstellung des Themas aber eher nebensächliche Erkenntnisse darüber, wie sich die Städte in der rechtshistorischen Theorie auf gemeinsames Handeln einigen konnten und wie das Delegieren von Macht mit dem mittelalterlichen Schwurverband von Stadtbürgern vereinbar war, rückt nun überraschend ins Zentrum. Nach Pitz war die Hanse eine Zusammensetzung zahlreicher "Partikularverbände" - eine nicht sonderlich überraschende Erkenntnis, durch die für das Verständnis des tatsächlichen Geschäftsbetriebs der Hansehändler nicht das Geringste gewonnen ist.
Hammel-Kiesow gibt, nachdem er seine Quisquilie raumgreifend referiert hat, das sogar selber zu: "Je stärker jedoch Fragen des politischen Lebens und seiner rechtlichen Gestaltung betroffen waren, desto geringer war die Chance, in vielen Hansestädten zur Rechtskraft zu gelangen." Was aber keine Rechtskraft hatte, beschäftigte die Hanseaten weniger als die heutigen Professoren. Ob hier vielleicht - die byzantinische Überbetonung eines Autors und eines Nebenaspektes und die ausgiebige Danksagung sprechen dafür - die peinlichen Feudalverhältnisse zwischen Schüler und Lehrer, Aspirant und Lehrstuhlinhaber mit im Spiel waren, wie sie an deutschen Universitäten ja zum üblen Brauchtum gehören?
So setzt der Autor leider denn doch die blutarme Tradition deutscher Rechtshistorie fort, die sich lieber mit dem Sollen als dem Haben der Vergangenheit auseinandersetzt. Doch anstatt zu erwägen, wie die Hanse als Partikularverband denn nun vielleicht reibungslos hätte funktionieren können, erführe man lieber, wie die Hanse-Kaufleute und ihre Stadtjuristen, Kalfaktoren und Beichtväter tatsächlich dachten, argumentierten und kulturell-religiös kalkulierten - die erhaltenen, inzwischen auch einigermaßen erschlossenen reichen Quellen aus Geschäftsbüchern, Religionstraktaten und Chroniken hätten eine Beleuchtung dieser Felder ermöglicht.
Bleiben wir im Jargon: Wer sich also im ganz persönlichen Partikularverband informieren will, was die jüngste Geschichtsschreibung über die Historie der Hanse herausgefunden hat, dem sei dieses Büchlein durchaus empfohlen. Die Gesamtdarstellung, nach deren Lektüre man die kulturhistorische Prägekraft dieser Wirtschaftsform besser versteht, bleibt aber weiterhin das Werk von Dollinger, das dem wissenschaftlichen Klima der überlegenen französischen Annales-Historie entsprang. So weit, selbst an deren Leistungen anzuknüpfen, sind die deutschen Kollegen noch nicht.
DIRK SCHÜMER
Rolf Hammel-Kiesow: "Die Hanse". Beck'sche Reihe Wissen. Verlag C.H. Beck, München 2000. 128 S., br., 14,80 DM.
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