sicheren Nachbarland Österreich lebt. Dorthin war er mit seiner Frau und dem zehn Jahre alten László geflohen, als der Volksaufstand brutal niedergeschlagen wurde. Allen praktischen Erwägungen zum Trotz hatte die attraktive Etelka auf die Flucht auch ihre roten Pumps mitgenommen. Diese eleganten Schuhe begleiten sie in ihrem neuen Leben als Erinnerung, aber auch als Verheißung einer besseren Zukunft, die frei von Sorgen sein soll.
Der Weg dahin ist weit. Zwar wird Familie Földesch in einem Molkereibetrieb freundlich aufgenommen und erfährt dort viel Unterstützung, doch leicht wird das Leben im Westen nicht. Zu Heimweh und materieller Not kommen Sprachprobleme. Anschaulicher als es ein politischer Aufruf zur kulturellen Integration je sein kann, zeigt Evelyn Schlag an ihren Figuren, wie wichtig die neue Sprache in der Migration ist. Etelka, die einer ungarndeutschen Familie entstammt, kann zwar bald als Dolmetscherin arbeiten, Istvan jedoch, ein tüchtiger Arbeiter, kommt mit der fremden Grammatik nicht zurecht.
Auch László, der "fesche Ungarnbub", tut sich schwer mit dem Deutschlernen. Als er einen Schulaufsatz zum Thema "Helden" schreiben soll, lobt ihn die Lehrerin jedoch trotz der offensichtlichen Grammatikfehler für seine leidenschaftliche Schilderung des ungarischen Fußballers Ferenc Puskás, den bis heute ein großer Nimbus umgibt: "Kleiner Mann Puskás mit Bauch vom Bier besiegt alles mit seine linke Bein." Doch nicht wegen seiner sportlichen Erfolge wird Puskás für die Ungarn-Flüchtlinge zum Helden. Wichtiger sind sein Protest gegen das kommunistische Regime, seine Übersiedelung in den Westen und nach einer anderthalbjährigen Sperre die ersehnte Zulassung für Länderspiele: "Puskás kommt nach Wien. Sowjetische Ungarn bedrohen Fifa, und alle ungarische geflüchtete Spieler bekommen Sperre. Bis jetzt. Jetzt ist Puskás Ferenc endlich frei."
So plastisch und anrührend erzählt die 1952 in Niederösterreich geborene Evelyn Schlag von den Hoffnungen und Ängsten der politischen Flüchtlinge, die damals Ungarn verließen. Angesichts der vielen Kriege und Bürgerkriege, die in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder neue Ströme von Migranten nach Mitteleuropa gebracht haben, ist das Schicksal dieser Ungarn-Flüchtlinge heute nahezu vergessen. Doch die Autorin will mit diesem Roman offenbar mehr, als mit einer sorgfältig recherchierten Geschichte zur politischen Erinnerungskultur beizutragen. Auf einer zweiten Handlungsebene nämlich, die im Jahr 2008 spielt, lässt sie den gealterten László als wunderlichen Kauz durch Wien stromern. An einer stillgelegten Tankstelle begegnet er zufällig dem fast gleichaltrigen Rechtsanwalt Valentin, den er mit eigentümlichen Kenntnissen aus dessen Familiengeschichte verwirrt.
Verwirrend wird es allerdings auch für die Leser, denn Evelyn Schlag verknüpft die beiden Zeitebenen des Romans auf komplizierte Weise. Da Valentins alter Vater und auch seine Freundin Katharina plötzlich in geheimnisvoller Verbindung zu den Ungarn-Flüchtlingen des Jahres '56 zu stehen scheinen, wird Valentin unfreiwillig zum Detektiv, der längst vergangene Vorgänge zu rekonstruieren versucht. Angetrieben wird er von der Faszination, die von dem seltsamen László ausgeht.
Ob dessen Wunderlichkeiten aber tatsächlich eine direkte Folge seiner Kindheitserlebnisse sind, bleibt offen. Denn Evelyn Schlag legt viele, ja zu viele Spuren aus, indem sie ein Gewirr einander überkreuzender Erinnerungen erschafft, in denen man sich leicht verliert. So wird das Schicksal der Flüchtlingsfamilie Földesch mehr und mehr von Beziehungsgeschichten und Zufälligkeiten überlagert, deren Unentschiedenheit, ja Unklarheit womöglich als Spiegel der verworrenen Zeitgeschichte gemeint sein mag - den Roman aber befrachten sie mit viel Ballast.
SABINE DOERING.
Evelyn Schlag: "Die große Freiheit des Ferenc Puskás". Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2011. 238 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main