Göttinger Professoren die Geschichte intellektueller Moral aus politischer Inkompetenz. Er versucht den Ruhm der sieben Professoren als Legende zu entlarven, denn die mutige Tat sei aus Ignoranz und Rechthaberei entsprungen. Der Protest der Professoren habe keinen berechtigten Grund gehabt; er habe sich weniger gegen eine reaktionäre Entscheidung des hannoverschen Königs als gegen die Aufhebung ihres Eides auf die Verfassung von 1833 gewandt. Dieser aber sei, außer von Dahlmann, von ihnen gar nicht geleistet geworden; es sei lediglich der Eid auf die Verfassung von 1819, den alle tatsächlich abgelegt hatten, auf die Verfassung von 1833 ohne eigene Eidesleistung übertragen worden, und deshalb habe der König die Professoren auch rechtens wieder auf die Verfassung von 1819 verpflichten können. "Daß König Ernst August juristisch einwandfrei handelte, ist kaum zu bezweifeln", stellt von See etwas unsicher fest, indem er durch ein reichlich unpolitisches Motiv die Handlung des Königs entschuldigt: "Der König war es geradezu seiner Selbstachtung schuldig . . ."
Von Sees Beweisführung läuft darauf hinaus, daß nicht etwa der Protest selbst, sondern allein die vorzeitige Publikation der Adresse an den König der Grund für die Entlassung der Professoren gewesen sei. Der Protest von 1837 habe den König vor allem deshalb provoziert, weil er in Umlauf war, noch ehe ihn der König kannte. Erst nachträglich, und endgültig von Treitschke 1864 im vierten Band seiner "Deutschen Geschichte", sei die Tat zu einer Legende von moralischer Größe gemacht worden.
Der Typus, den von See in den Brüdern Grimm, in Dahlmann, Gervinus erkennt, der "politische Professor" hat es verdient, näher beschrieben und auf seine Herkunft befragt zu werden. Von Sees Abhandlung ist diesem, auch im gegenwärtigen Deutschland nicht seltenen Typ gewidmet, der sich auf Grund seiner wissenschaftlichen Autorität zum politischen Vorredner berufen fühlt, ohne genauer mit der Politik befaßt zu sein, ja ohne zunächst einmal ein Interesse dafür an den Tag zu legen.
In der Tat ist Jacob Grimms Verteidigungsschrift gegen seine Entlassung eine Gründungsurkunde der Universität als moralischer Anstalt: "der offne, unverdorbne sinn der jugend fordert, dasz auch die lehrenden, bei aller gelegenheit, jede frage über wichtige lebens- und staatsverhältnisse auf ihren reinsten und sittlichsten gehalt zurückführen und mit redlicher wahrheit beantworten. (. . .) da kann auch nicht hinterm berge gehalten werden mit freier, nur durch die innere überzeugung gefesselter lehre über das wesen, die bedingungen und die folgen einer beglückenden regierung". Unzweifelhaft haben diese Sätze die Germanistik als politische Wissenschaft begründet und die "Göttinger Sieben" zu Ahnen des politischen Gewissens gemacht.
Jacob Grimm ist für von See das Urmodell des "politischen Professors". Die Vorwürfe gegen ihn häufen sich aber in einem Maße, daß das, was eine politische Analyse sein wollte, sich schließlich wie eine persönliche Beleidigung anhört. Grimm mag alle die Untugenden gehabt haben, die von See an ihm konstatiert: "Ichbezogenheit, um nicht zu sagen, Selbstverliebtheit und dazu politische Weltfremdheit", Starrsinn, Mißtrauen gegenüber Kollegen und Freunden, Verbitterung, Argwohn, Intoleranz, Illiberalität, Schadenfreude gegenüber Angehörigen, naive Impertinenz, Schwadroniererei, die schließlich auch "die chauvinistische Rederei in der Paulskirche" hervorbringt. Dennoch ist die Beschreibung, zumal sie Grimms private Person nicht ausläßt, selbst intolerant. In der Abneigung gegen Grimm entgleisen von Sees Formulierungen: "In der ,Widmung' seiner ,Geschichte der deutschen Sprache' (. . .) langte Jacob Grimm dann noch kräftiger hin, indem er die Hoffnung äußert, "daß ,Lothringen, Elsasz, die Schweiz, Belgien und Holland' wieder heim ins Reich kehren werden".
Derartige Antipathien sind nur verständlich, wenn sie Ausdruck eigener schmerzlicher Erfahrung sind. Nur scheinbar behandelt dieses Buch ein historisches Kapitel deutscher Universitätsgeschichte. In Jacob Grimm, dem Vater der Germanistik, entdeckt Klaus von See, selbst Professor für Germanistik, den Vorläufer der Studentenbewegung, der RAF, von Walter Jens und allen anderen linken Übeln, die in den siebziger Jahren einen Frankfurter Ordinarius bedrücken konnten. "Der Anspruch moralischer Autorität, an politische Verantwortung nicht gebunden", führe eitle Professoren in leere Rhetorik und betöre Studenten zu unüberlegten Aktionen. An den "Göttinger Sieben" vollzieht von See einen verspäteten Racheakt, der in Wahrheit der politisierten Universität vor dreißig Jahren gilt, ohne zu merken, daß diese selbst schon Geschichte geworden ist und längst dem bedrückenden Ensemble von enthaltsamer Solidität bei den Professoren und massenhafter Ratlosigkeit bei den Studenten Platz gemacht hat. HANNELORE SCHLAFFER
Klaus von See: "Die Göttinger Sieben". Kritik einer Legende. Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 1997. 107 S., br., 18,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main