mysteriösen Gründen für selbstverständlich erachteten Verschwinden von Geld; einer Tributzahlung, die mit demselben Schulterzucken hingenommen wird wie einst der Zehnte für die Kirche, wie aztekische Menschenopfer oder die unseres Straßenverkehrs.
Solange der Glaube intakt ist, ist der Mensch zum Verzicht geneigt, weil erst der Verzicht ihn zum Menschen macht, ihn einfügt in soziale Zusammenhänge und deren Mythen. Wir Heutigen glauben an den Menschen als ein reparierbares Wesen und stellen uns gut mit unseren Monteuren. Es liegt ein Stück Hoffnung in jenem seltsamen Akt, der den Eintritt in die ärztliche Sphäre darstellt: Wir geben eine Karte ab, die von einem Mikrochip bewohnt wird, der an unserer Stelle eine Reise in ein unbekanntes Gebiet antritt, so wie die Seele des Kranken in schamanistischen Kulturen an einen Jenseitsort entfleucht. Das Plastikkärtchen entschwindet unseren Blicken, mit ihm begeben sich unsere Daten in eine fremde Obhut, unsere Person also, soweit sie gesundheitssystemisch von Belang ist.
Wollen wir so genau wissen, welche Gefahren ihr drohen, auf welche finsteren Abwege sie geraten kann? Wie sie sich spalten und vervielfachen und wie sie in das Buchungssystem anderer Ärzte geraten kann, die sie dann von Krankheiten heilen, von denen wir nichts wußten? Wollen wir wirklich das häßliche, verständnislose Wort vom Abrechnungsbetrug benutzen lernen, wie es jetzt immer öfter aus den Medien erschallt, weil eine stets wachsende Zahl von polizeilich verbeamteten Häretikern der Ärzteschaft nachstellt?
Lesen wir dieses Buch, so wissen wir, daß den Medizinmännern keine Wahl bleibt, als die unberechenbaren Mächte der Krankenkassen auf falsche Fährten zu locken. Deren Abrechnungssystem hat den einzigen Wert, den wir kennen, das Geld, abgeschafft und durch ein vages Punktsystem ersetzt, welches unsere weißen Halbgötter verschmilzt zu einem großen, wabernden Dienstleistungskondensat, in dem jede erbrachte Tätigkeit relativiert wird durch alle anderen erbrachten Tätigkeiten aller anderen Halbgötter im selben Bezirk. In einem Akt verzweifelter Gegenwehr müssen die Ärzte ihre Tätigkeit aufschäumen, soweit es geht, müssen billigen Zahnersatz als teuren abrechnen, Phantomkrankheiten an Phantompatienten behandeln, die sie aus Karten heraufbeschworen haben, welche an einer anderen Ecke der Praxisgemeinschaft hereingetrudelt sind; müssen sich gut stellen mit den Herrschaften von der Pharmaindustrie, die gerne mal Fortbildungen mit Betonung auf "fort" anbieten - Malta, New York, Nizza; die unterderhand auch echtes, vertrauenswürdiges Geld anbieten in Form von Umsatzbeteiligung an bestimmten Arzneimitteln; die immer freundlich und entgegenkommend sind und einen Arzt noch mit Respekt behandeln.
Denn die Herren von der Pharmaindustrie wissen selber, wie es ist, in einer Sphäre der Ungewißheit zu leben: Wenn mein Produkt unter Patentschutz steht und die Konkurrenz des Marktes entfällt - wie soll ich dann den Preis dafür gestalten? Bin ich nicht gezwungen, das Mittel zu einem Tausendfachen der Herstellungskosten anzubieten, damit es eine Wertschätzung findet, die für den Heilungsprozeß unverzichtbar ist? Wie soll ich mich außerhalb meiner selbst orientieren, wenn die Gesetzgebung in Hunderte Einzelteile zertrümmert ist, die Bundestagsabgeordneten, und wenn diese Einzelteile immer öfter auf meinen eigenen Honorarlisten auftauchen? Ist eine Welt anders als unheimlich zu nennen, in der ein altbekanntes Gebrechen wie die Osteoporose urplötzlich zur Volkskrankheit mutieren kann, wenn die Werbekampagne für das rettende Hormonpräparat es nur will? Soll man als Pharmamensch weitermachen, wenn infame Medien mit Hilfe infamer Polizeistatistiken das Gesundheitswesen als Korruptionsmilieu Nummer eins darzustellen sich unterstehen?
Verunsicherung und basses Staunen verursacht dieses Buch, in dem Verflechtungen, Verfilzungen und Versickerungen nachvollzogen werden, als wäre das Gesundheitswesen ein korruptes, absurdes System. Es sei jedem zum Lesen anempfohlen, der im Wartezimmer seines Hausarztes sitzen und auf sein Überwiesenwerden warten muß, obwohl er doch den Facharzt beim Namen kennt, zu dem er gehört. Welcher Teufel den Hausarzt-Lotsen-Irrsinn ins System geritten hat, erfährt man auch hier nicht. Wahrscheinlich sind wir noch nicht stark genug, die Wahrheit zu verkraften.
KLAUS UNGERER
Marita Vollborn, Vlad Georgescu: "Die Gesundheitsmafia". Wie wir als Patienten betrogen werden. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2005. 383 S., geb., 18,90 [Euro].
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