ihm den tollkühnen Mut, sich gegen brutale Knechte zur Wehr zu setzen und ihnen mit seiner jüngeren Schwester Annie zu entfliehen. Auf abenteuerlichen Wegen und nach einer vor allem für Annie bitteren Zeit der Trennung kommen die verwaisten Kinder nach Manchester, wo sie endlich ein Zuhause finden.
Wege und Straßen sind Metaphern des Lebens wie des Romans als literarischer Gattung. Sie sind seine bevorzugten Schauplätze. Auf den Straßen erfahren die Romanhelden das Leben buchstäblich, begegnen sie den Menschen, die ihre Zukunft bestimmen. In Livi Michaels Roman verkörpert die "flüsternde" Straße den Geist der Erzählung. Wer auf ihr wandert und zuzuhören versteht, dem erzählt sie immer neue Geschichten. Das erfahren die Kinder Joe und Annie vom Vagabunden Travis. Er hat die hilflosen Flüchtlinge gefunden, schützt sie vor den Mordgesellen, verschafft ihnen Nahrung und warme Kleider und erzählt ihnen seinen eigenen Mythos des Vagabundenlebens. Er bringt sie zum großen Wald, durch den sie allein hindurch müssen wie die Märchenkinder und in dem seine Erzählung für sie zur erlebten Gegenwart wird.
Der historische Jugendroman hat es schwer, sich gegen die florierende phantastische Literatur zu behaupten. Livi Michael kommt dem Trend insofern entgegen, als sie ihre realistische Erzählung mit phantastisch anmutenden Elementen durchwirkt, dabei aber in der Schwebe läßt, ob und wie sie zu verstehen sind. Die Figur der "Hundfrau", die im Wald ein Rudel Wölfe und wilde Hunde anführt und manche Fäden der Erzählung zu entwirren vermag, erlaubt märchenhafte und mythische Lesarten, erinnert aber auch an die historischen Überlieferungen von Wolfskindern. Schwieriger ist der Fall der kleinen Annie, die als Medium in Trance die Stimmen und Bewegungen von ihr unbekannten Toten zum Hören und Sehen bringt. Die Autorin läßt sie dank ihrer ziemlich grusligen Begabung einige reale Knoten der Handlung lösen und beitragen zum glücklichen Ende. Die eingeschränkte Erzählperspektive des jungen Ich-Erzählers allein erklärt dies Rätsel nicht. Es bleibt ein geheimnisvoller, phantastischer Rest.
Dennoch erzählt Livi Michael in aufklärerischer Absicht von einem prekären Kapitel englischer Geschichte. Manchester um das Jahr 1830 - das heißt industrielle Ausbeutung und bitterste Armut, wie sie Friedrich Engels in seiner Schrift "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" 1844/45 geschildert hat. In den viel zu dicht besiedelten Arbeitervierteln herrschen katastrophale Wohnverhältnisse, sind Alkoholismus, Kinderarbeit und -prostitution alltäglich. Die vielen Menschen, dazu die Baumwollfabriken, Spinnereien und Färbereien verschmutzen das Trinkwasser und verursachen Seuchen. Nach Joes Leben im Armenhaus und als Kindersklave auf dem Land lernt er hier das städtische Elend kennen. Dennoch glücklich über die gewonnene Freiheit, schließt er sich einer Kinderbande an, bis diese durch eine Choleraepidemie schrecklich dezimiert wird. Wie im traditionellen Jugendroman wird Joe durch einen reichen Mann gerettet. Allerdings durchschaut er dessen mildtätige Handlung als trügerische Fassade einer unbarmherzig biologistischen Sozialpolitik im Interesse der feudalen Oberschicht. Er lernt den (historischen) Zeitungsmacher und späteren Bürgermeister Manchesters, Abel Heywood, kennen und beginnt an dessen Seite gegen die Armut und für eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen.
Junge Leser ab dem zwölften Lebensjahr finden in diesem Buch eine spannende, so bewegende wie unaufdringlich belehrende Geschichte, in die sie sich hineinspinnen können und deren psychologisch differenziert gezeichnete Figuren sich einprägen. Der Roman ist eine Hommage an das große Vorbild Charles Dickens, dem Livi Michael in Stoff, Figurenzeichnung und Handlung verpflichtet ist. Im Unterschied zu Dickens' komplexen, vielfigurigen Handlungen macht ihre lineare Erzählstruktur und die lebhafte Erzählweise es den Lesern leichter, so daß das Buch eine Brücke zur späteren Lektüre seiner Romane zu schlagen vermag. Hervorzuheben ist die sorgfältige Übersetzung von Salah Naoura, die ohne die üblichen Anglizismen auskommt.
GUNDEL MATTENKLOTT
Livi Michael: "Die flüsternde Straße". Aus dem Englischen übersetzt von Salah Naoura. Bilder von Katrin Engelking. Carlsen Verlag, Hamburg 2005. 507 S., geb., 19,50 [Euro]. Ab 12 J.
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