Utopischen" (Hans Mommsen) detailliert aufhellt. Der Band ist Teil einer von Yad Vashem herausgegebenen mehrbändigen Gesamtdarstellung des Holocaust.
Der Autor beschränkt sich auf die ersten Kriegsjahre und bezieht dabei unterschiedliche Handlungsfelder ausführlich ein, aus denen sich schrittweise das Konzept der "Endlösung" herausgebildet hat. Die rasseideologischen Axiome des Nationalsozialismus und ihre ständige Wiederholung in Reden, Besprechungen, Direktiven und Befehlen gingen - wie eindrucksvoll gezeigt wird - mit der polykratischen Struktur des Herrschaftssystems eine enge Verbindung ein und verliehen so den mörderischen Zielen von oben und ihrer zum Teil eigenmächtigen Umsetzung von unten ihre spezifische Dynamik. Polykratische Interessen der beteiligten Institutionen und grundlegender Konsens über die von Hitler oft bewußt unklar gehaltenen Vernichtungsparolen sind überall erkennbar. Der alte, primär in der deutschen Historiographie mit Verve ausgetragene Interpretationsstreit zwischen "Programmologen" und "Strukturalisten" ist damit endgültig gegenstandslos. Es gab kein Vernichtungsprogramm von Anfang an, das planmäßig umgesetzt wurde. Die physische Ausrottung der Juden war aber auch nicht Funktion einer ziellosen Dynamik des Systems. Im Mittelpunkt stand Hitlers obsessiver Antisemitismus. Die "Judenfrage" war für ihn Ursache aller Probleme und auch "Schlüssel zu ihrer Lösung". Browning rückt Hitler ins Entscheidungszentrum des Prozesses der ständigen Radikalisierung unterschiedlicher Lösungsvorschläge, macht aber zugleich sehr deutlich, daß es zu ihrer Realisierung vieler Voraussetzungen bedurfte.
Browning gelingt eine sehr überzeugende gedankliche Verbindung der häufig separierten Teilbereiche der nationalsozialistischen Rassepolitik: der Umsiedlung der Volksdeutschen, der Deportation und partiellen Liquidierung von Polen sowie der Verfolgung und Ermordung der Zigeuner und der Behinderten. Polen erhält dabei einen hohen Stellenwert in der Gesamtinterpretation. Es fungierte als Laboratorium der Vertreibungs-, Umsiedlungs- und Liquidierungspolitik mit dem Ziel einer völligen Neuordnung Osteuropas. Daß sich dabei kurz- und langfristige Pläne überschnitten und mehrfach in Konflikt gerieten, wird in der detaillierten Nachzeichnung des außerordentlich komplexen und widersprüchlichen Entscheidungsprozesses deutlich. Nach dem Ende des Feldzuges gegen Polen veränderten sich mehrfach die Planungen, was mit den besetzten Gebieten Polens geschehen und ob und wie ein "Reservat" für die Juden geschaffen werden solle. Vor diesem Hintergrund entwickelte insbesondere der "Madagaskar-Plan" (die Umsiedlung aller Juden auf die zum französischen Kolonialbesitz gehörende Insel) im Sommer 1940 eine hohe Faszinationskraft für nahezu alle relevanten Entscheidungsträger.
Nachdem diese an die Kapitulation oder Verständigungsbereitschaft Englands gebundene Variante entfiel und auch die für die Lubliner Region zunächst vorgesehene Reservatsbildung gestoppt wurde, bildete die Vorbereitung des "Unternehmens Barbarossa" die nächste Stufe der Radikalisierung. In diesem Zusammenhang veränderte sich auch die von Browning eingehend erörterte Bildung der Gettos in Polen. Sie verlief nicht einheitlich und war zunächst nicht unmittelbare Vorstufe der "Endlösung". Das mit der Zusammenpferchung Hunderttausender auf engstem Raum entstandene Dilemma lautete für die Verwaltung "Produktion oder Hungertod", das heißt Ausbeutung der Arbeitskräfte oder Vernichtung durch völlig unzureichende Ernährung. In der Praxis des Gettolebens war es beides.
Im Altreich schuf die bürokratisch immer perfider ausgetüftelte Separierung und Diskriminierung eine Art von Gettoersatz, der ebenfalls Einsatz in der Kriegswirtschaft und Disposition über künftige Deportationen erlaubte. Überzeugend arbeitet der Autor die inneren Verbindungslinien und Parallelen zur Politik gegenüber den "Zigeunern" und den Behinderten heraus. Der Weg zum Krankenmord war - anders als der nach Auschwitz - geradlinig. Aber die rassepolitischen Grundlagen und partiell auch die Instrumente wie der Einsatz von Vergasungswagen waren ähnlich. Euthanasie und "Endlösung" waren, wie Browning pointiert feststellt, "zwei Schlachten desselben Kreuzzugs". Der Verlauf der Razzien und Deportationen von Sinti und Roma nahm vieles vorweg, was den Juden noch bevorstand.
Wenn es nach den Exzessen in Polen noch eines Tabubruchs bedurfte, dann zeigte sich dieser in den ersten Wochen nach dem Überfall auf die Sowjetunion. In Bialystok und Lemberg wurden unter Ausnutzung lokaler Pogromstimmung auch Frauen und Kinder gezielt in die Mordaktionen einbezogen. Der Weg nach Auschwitz, das heißt die Massenvergasung als besser geheimzuhaltende Form der "Lösung der Judenfrage", erscheint nach dieser Vorgeschichte weniger utopisch. Zeitlich datiert Browning die Entscheidung zur Ausweitung der Vernichtung der sowjetischen Juden auf die "Endlösung" für ganz Europa auf die Monate zwischen Sommer und Herbst 1941. Die Euphorie der anfänglichen militärischen Erfolge spielte dafür eine zentrale Rolle und ließ auch die letzten Hemmungen verschwinden. Der Übergang von den - minutiös rekonstruierten - Erschießungsorgien zur Errichtung von Vernichtungslagern mit der "humaneren Methode" der Vergasung vollzog sich nach ersten Experimenten mit Gaswagen in Chelmno (im Warthegau) in großem Maßstab seit dem Frühjahr 1942, beginnend mit Belzec, Birkenau und Semlin (bei Belgrad).
Die schwierige Frage nach Antrieben und Motivation der an den Massenerschießungen Beteiligten wird nur gestreift. Browning ist ihr in seiner Studie "Ganz normale Männer" über das Reservepolizeibataillon 101 nachgegangen. Gewöhnung und Verrohung im Krieg, Rechtfertigung durch Vorgesetzte, Gruppendruck und schließlich auch nationalsozialistische Überzeugung von der Notwendigkeit der Vernichtung sind einige Faktoren. Ein großer Rest bleibt. Der von Browning zitierte Brief eines Wiener Polizeisekretärs über seine Schießübungen an jüdischen Frauen, Kindern und Säuglingen in Mogilev im Oktober 1941 ist eines der schaurigsten Zeugnisse politisch motivierter menschlicher Verrohung eines "ganz normalen" Familienvaters. Die im Vorfeld der "Endlösung" praktizierten massenhaften Mordaktionen verliefen, wenn man sich ihren ungeheuren Umfang vergegenwärtigt, geradezu deprimierend reibungslos. Das zeigt, wie gering der moralische Widerstand bei den Tätern war und welches Ausmaß der Zivilisationsbruch hatte. Browning greift daher in seiner Schlußbetrachtung diese jeden kritischen Zeitgenossen beklemmende Frage nochmals auf, ohne sie jedoch mit den nur knappen Hinweisen befriedigend beantworten zu können.
Das Buch besticht durch die souveräne Verbindung von präziser, sehr detaillierter und sprachlich gelungener Verarbeitung einer riesigen Fülle an Quellen und Literatur mit komplexer Interpretation. Die Erklärungen sind nicht auf Hitler fixiert, sondern erhellen in vielen Einzelheiten das Ausmaß an Erfüllungseifer untergeordneter Instanzen. Die aktive und passive Komplizenschaft der Wehrmacht gehörte dazu. Ohne Hitlers wüsten Antisemitismus und seine Entschlossenheit zur "Lösung der Judenfrage" ist die Dynamik der ständigen Radikalisierung jedoch nicht erklärbar. "Hitler übte schon durch seine bloße Existenz einen beständigen Druck auf das politische System aus, der unter den Getreuen und Ehrgeizigen zu einem Wettstreit um den radikalsten Vorschlag sowie die brutalste und umfassendste Umsetzung der Judenpolitik führte", schreibt Browning. Überzeugte Eugeniker, Techniker aller Art, Karrieristen und Opportunisten trugen ihr Teil dazu bei. Für das Resultat waren die unterschiedlichen Antriebe letztlich irrelevant. Der Entscheidungsprozeß war, wie der Autor eindringlich zeigt, von der zeitlichen Korrelation zwischen militärischen Erfolgen und Radikalisierung der Judenpolitik bestimmt. Als die Kriegswende sich abzeichnete, war die "Endlösung" bereits beschlossen und im Gange.
CHRISTOPH KLESSMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main