Algorithmen abgleicht. Geräte, Sensoren und Maschinen machen Informationen über Position und Identität von Objekten und Personen jederzeit und überall verfügbar.
Das ist, wie der Techniksoziologe Johannes Weyer schreibt, die Idee der Echtzeitgesellschaft, die es beispielsweise erlaubt, dass junge Leute an mehreren Orten zugleich präsent sind, wenn sie während einer Familienfeier gleichzeitig online mit ihren Freunden verbunden sind und bei Ebay mitbieten. Eine Spracherkennung übersetzt das gesprochene Wort im Moment des Sprechens in Geschriebenes. Nach einer Online-Klausur stehen sofort die Noten fest. Ein Monitor am Patientenbett erkennt sofort die kritische Situation und alarmiert selbsttätig den Arzt. Die Echtzeitgesellschaft sei einerseits zeitlos, und andererseits erhielten Raum und Zeit eine neue Bedeutung, schreibt Weyer, weil sie bei allen elektronischen Transaktionen als Metadaten nebenbei anfallen. In Echtzeit zu leben und zu handeln bedeutet eine Verdichtung von Prozessen, die sich zuvor in größeren Zeiträumen abgespielt haben. Fielen Planen und Handeln früher auseinander, schaute man in den Fahrplan der Deutschen Bahn, um die Verbindungen der nächsten Woche herauszusuchen, wird jetzt vorausschauende Planung durch adaptive Reaktionen ersetzt: Aktuell fahren keine Züge, aber es gibt günstig attraktive Flugangebote.
Die zunehmende Erhebung von immer mehr Daten führt dazu, dass die Balance von Autonomie und Kontrolle ins Wanken gerät. Je mehr privater Alltag in der Form von Daten erfasst wird, um so größer wird die Gefahr, Freiheit und Selbstbestimmung zu verlieren, man denke nur an das Social Scoring in China. Allein diejenigen Daten, die durch die Selbstvermessung des Menschen mit Ernährungs-, Fitness- und Sport-Apps oder Fahrrad-Routenplanern in Echtzeit erstellt werden, sind eine vollkommen neue Qualität. Eine Erhebung mit Fragebögen, in der man selbst Auskunft gibt über sein Bewegungsverhalten, ist deutlich aufwendiger und von subjektiven Verzerrungen stärker beeinträchtigt als das, was Smartwatches nicht nur automatisch ermitteln, nicht nur als Stichprobe ziehen, sondern in der Gesamtheit von Tagen, Wochen oder gar Monaten als vollständiges Sample erfassen.
Auch die Echtzeitdatenverarbeitung ist eine Zäsur, wenn mit maschinellem Lernen immense Datenbestände selbst dann verarbeitet werden, wenn sie aus unterschiedlichen Quellen stammen. Ein spektakuläres Experiment des MIT zeigte, dass nur aus den Bewegungsmustern, die bei Probanden mit dem Smartphone erfasst wurden, auch Beziehungs- und Persönlichkeitsmerkmale generiert werden konnten. Personen mit hohen Anteilen von Routinetätigkeiten ließen sich unterscheiden von Menschen mit chaotischen Tagesstrukturen. Über das kollektive Verhalten gelingen auch Rückschlüsse auf Strukturen komplexer Sozialsysteme.
Der Dortmunder Professor für Techniksoziologie geht in seinem Buch drängenden Fragen nach, wie das Leben in der Echtzeitgesellschaft zwar weniger riskant und besser planbar wird, aber die Spielräume für flexibles Handeln verengt werden. Wie sich die datengetriebenen Prozesse dann beherrschen und politisch steuern lassen und welches Risikomanagement gefragt ist, erläutert er an spektakulären Beispielen unter anderem aus der Luftfahrt. Wenn Steuerbefehle zunächst vom Bordcomputer auf Zulässigkeit hin geprüft und erst dann an Triebwerke oder das Leitwerk weitergeleitet werden, mag das Sicherheit und Komfort erhöhen, kann aber auch eine Quelle neuartiger Risiken sein. Während die Befugnisse der Piloten auf diese Weise eingeschränkt werden, wird von ihnen jedoch erwartet, dass sie im Störfall eingreifen und rasch eine Lösung finden. In derartigen Krisensituationen sollen sie also über Kompetenzen verfügen, die sie im Normalfall nicht benötigen. Die Problematik lässt sich übrigens eins zu eins auf das autonom fahrende Auto übertragen. Ein spannendes Buch mit vielen Fallstudien und interessanten Perspektiven.
MICHAEL SPEHR
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