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Sogenannte Nahtod-Erfahrungen und Seelenreisen hat man mit einigem Recht als das größte ungelöste Rätsel der Bewußtseinsforschung bezeichnet. Und in der Tat sind bislang sämtliche philosophischen, neurologischen oder psychiatrisch-psychologischen Erklärungsversuche gescheitert - um die esoterischen Ansätze gar nicht zu erwähnen. Im Gegensatz zu metaphysisch-spiritistischen Spekulationen über einen »Austritt« des Bewußtseins oder der Seele aus dem Körper erklärt Hans Peter Duerr Nahtod-Erfahrungen auf »naturalistische« Weise als eigentümliche und äußerst komplexe Halluzinati...
Sogenannte Nahtod-Erfahrungen und Seelenreisen hat man mit einigem Recht als das größte ungelöste Rätsel der Bewußtseinsforschung bezeichnet. Und in der Tat sind bislang sämtliche philosophischen, neurologischen oder psychiatrisch-psychologischen Erklärungsversuche gescheitert - um die esoterischen Ansätze gar nicht zu erwähnen. Im Gegensatz zu metaphysisch-spiritistischen Spekulationen über einen »Austritt« des Bewußtseins oder der Seele aus dem Körper erklärt Hans Peter Duerr Nahtod-Erfahrungen auf »naturalistische« Weise als eigentümliche und äußerst komplexe Halluzination. Ihr Wirklichkeitscharakter ist einzigartig.Der bekannte Philosoph und Ethnologe Hans Peter Duerr hat alle zugänglichen Quellen über Nahtod-Erfahrungen und Seelenreisen von den Anfängen der Überlieferung bis in die Gegenwart dokumentiert und analysiert. Damit gelingt ihm ein leicht verständlicher, erhellender Überblick über Interpretationen und Meinungen zu dieser besonderen Erfahrung. Jenseits von Esoterik und dogmatischem wissenschaftlichem Rationalismus erhält ein häufig auftretendes und meist unverstandenes Phänomen eine überzeugende Erklärung.
Hans Peter Duerr, geboren 1943 in Mannheim, war bis 2005 Professor für Ethnologie und Kulturgeschichte in Bremen. Er lebt in Mannheim und Heidelberg.
Produktdetails
- Verlag: Insel Verlag
- Seitenzahl: 687
- Erscheinungstermin: 6. Oktober 2015
- Deutsch
- Abmessung: 222mm x 151mm x 42mm
- Gewicht: 988g
- ISBN-13: 9783458176312
- ISBN-10: 3458176314
- Artikelnr.: 41839867
Herstellerkennzeichnung
Insel Verlag GmbH
Torstraße 44
10119 Berlin
info@suhrkamp.de
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Wohin geht die Seele?, fragt Rezensent Otto A. Böhmer. Antworten findet er beim Philosophen und Ethnologen Hans Peter Duerr und in dessen "beeindruckendem" Buch, in dem der Autor Dokumente zu Jenseitserfahrungen aus zwei Jahrtausenden versammelt, wie Böhmer erklärt. Gleich, ob das Material im Buch authentisch ist oder nicht, Duerrs Erzählungen im "Stil eines Reiseschriftstellers" mit einer gesunden Portion Skepsis scheinen dem Rezensenten lesenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Wie es drüben wohl aussehen mag?
Vierzig Jahre nach seinem Ethno-Bestseller "Traumzeit" sondiert Hans Peter Duerr noch einmal das Jenseits
Im Zeitalter der Mobilmachung ganzer Wissenschaftszweige zu hochorganisierten Clustern und Zentren bleibt jüngeren Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen oft wenig Muße für die Ausarbeitung wegweisender Studien. So gelingt es manchmal eher den alten Herren oder Damen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer, Zukunftsperspektiven ihrer Fächer zu entwerfen - wenn sie es denn schaffen, den Fallstricken des Mainstreams zu entkommen, den sie selbst mitgeprägt haben. Genau das scheint dem Ethnologen Hans Peter Duerr mit seinem neuen Buch gelungen zu sein.
Im
Vierzig Jahre nach seinem Ethno-Bestseller "Traumzeit" sondiert Hans Peter Duerr noch einmal das Jenseits
Im Zeitalter der Mobilmachung ganzer Wissenschaftszweige zu hochorganisierten Clustern und Zentren bleibt jüngeren Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen oft wenig Muße für die Ausarbeitung wegweisender Studien. So gelingt es manchmal eher den alten Herren oder Damen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer, Zukunftsperspektiven ihrer Fächer zu entwerfen - wenn sie es denn schaffen, den Fallstricken des Mainstreams zu entkommen, den sie selbst mitgeprägt haben. Genau das scheint dem Ethnologen Hans Peter Duerr mit seinem neuen Buch gelungen zu sein.
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fernen 1977 veröffentlichte Duerr den bis heute einzigen Bestseller der deutschsprachigen Völkerkunde: "Traumzeit", ein umfangreicher, mit einer ungeheuren Fülle von Belegen untermalter Abgesang an die Saga von der Einzigartigkeit europäischer Rationalität angesichts der von Ethnologen erforschten tribalen Ekstasen und schamanistischen Flugerfahrungen. Nun legt Duerr ein opulentes Alterswerk vor, das sich liest wie ein wunderbares, fast überreiches Kaleidoskop innerer und äußerer Reisen. Doch der Bruch mit dem von Duerr und vielen anderen Ethnologen seiner Generation im Rahmen des "Ethno-Booms" der siebziger Jahre erfundenen postkolonialen Mainstream seines Faches ist unübersehbar.
Vordergründig handelt es sich bei Duerrs Buch um eine ethnologische Antwort auf die Konjunktur populärer, wissenschaftlicher und pseudowissenschaftlicher Literatur zu visionärer "Nahtod-Erfahrung" und "außerkörperliche Erfahrung", wie sie bei Reanimation oder Schockzuständen auftreten sollen. In dieser Literatur werden die Sichtung eines "Lebensfilms", das Heraustreten eines ichbewussten Phantomkörpers aus dem physischen Körper, Tunnel- und Erleuchtungserlebnisse, Begegnung mit Verstorbenen und paradiesähnliche Situationen meist als Beweis für das Weiterleben der Seele nach dem Tode genommen. Triebkraft der Nahtod-Mode ist der Wirklichkeitscharakter - im Unterschied etwa zum gewöhnlichen Traum - der als einmalig und überwältigend erfahrenen Visionen.
Hans Peter Duerr nimmt diese Visionsliteratur als populäre Erzählung ernst und erteilt zugleich dem parawissenschaftlichen Argument der Seelenkundler unterschiedlicher Couleur eine deutliche Absage. Dazu bedient er sich eines multikulturellen Verfahrens: Die Aussagen heutiger Nahtod-Erzähler und ihrer medizinischen Begleiter sowie der Versuchspersonen der neurobiologisch grundierten Bewusstseinsforschung werden in diesem Buch zusammengestellt mit den Zeugnissen kulturhistorisch überlieferter Ekstasen und den zahlreichen Berichten über außerkörperliche Erfahrung und Jenseitsvision, welche in Jahrhunderten ethnologischer Forschung bei sogenannten Primitiven aufgelaufen sind. Das schafft zum einen eine ungewohnte, gegen koloniale Abgrenzungen gerichtete Leseerfahrung. Und zum anderen entpuppt sich diesem universalistischen und egalitären Vorgehen die esoterische Interpretation der Nahtod-Erfahrung als Unsinn.
Zunächst wird durch Duerrs Untersuchungen deutlich, dass die Erfahrungen, welche Menschen im Zustand vermeintliche oder wirklicher Todesnähe machen können, nicht immer gut und positiv-visionär sind. Sie können auch inkohärent, desorientierend und erschreckend sein. Die sehr unterschiedlichen auslösenden Situationen der Außerkörperlichkeit lehren aber auch, dass es keine klare Korrelation zwischen Hirntod und Ekstasen gibt. Viele angeblich "klinische Fälle" belegen bei näherer Betrachtung, dass auch Menschen, die sich dem Tod lediglich nahe fühlen, Erfahrungen dieser Art machen, dass diese spontan im Alltag auftreten können und dass im Falle von Schwerverletzten unter Reanimation das gleichzeitige Auftreten von Ekstase und Hirntod nicht bewiesen werden kann. Es handelt sich eben doch um traumartige Erlebnisse, auch wenn sie den gewohnten Träumen und Halluzinationen so wenig gleichen.
Diese Erlebnisse sind ein Erbe der Menschheit, das sich irgendwie, wir wissen nicht, wie, im Dickicht der Neuronen abspielt. Die Erzählungen von diesen Erlebnissen jedoch (und deren Dogmatisierung, Kontrolle, Medikalisierung, Verrechtlichung) sind historisch-kulturelles Erbe einzelner Menschengruppen. Es gibt keinen Sinn, als Materialist gleich auf die "oberste Eskalationsstufe" (Duerr) der Kritik zu steigen und Menschen, die von diesen Erfahrungen berichten, einfach als Schwindler oder Primitive hinzustellen. Genauso unsinnig ist es aber, die Überprüfung ihrer Glaubwürdigkeit völlig abzulehnen und einer Idee der Begegnung unterschiedlicher Formen von Schilderungen mit Wahrheitsanspruch "auf Augenhöhe" zu huldigen. Vierzig Jahre nach "Traumzeit" pocht Duerr also darauf, dass es auf diesem Terrain Aussagen gibt, die mehr, und solche, die weniger Glaubwürdigkeit verdienen. Moderater Konstruktivismus und Universalismus sind an die Stelle der puren Dekonstruktion und des postmodernen Nebeneinanders von Wahrheitsansprüchen getreten.
Der deutschsprachige "Ethno-Boom" der siebziger Jahre nahm die postkoloniale "Writing Culture" der nordamerikanischen Kulturanthropologie und damit den heutigen internationalen Mainstream des Faches um zehn Jahre vorweg. Doch Duerr warnt uns heute davor, im Dialog der Kulturen und Religionen die Position der Aufklärung und des naturwissenschaftlichen Rationalismus lediglich als eine von vielen Möglichkeiten der Weltwahrnehmung zu betrachten. Seine Untersuchungen mystischer Zustände behandeln zwar die einschlägigen Befunde einer naturwissenschaftlich orientierten Medizin auf einer Ebene mit den Aufzeichnungen von Mystikern, Ritualforschern und Chronisten der Vergangenheit und Gegenwart.
Doch Duerrs Buch führt von der Wittgensteinschen Idee der "Überlappung" und "Translation" zwischen Weltbildern zur Beobachtung, dass diese Basis von Verstehen und Interpretation in der physischen Einheit der Rasse Homo sapiens begründet ist. In dieser physischen und rudimentären psychischen Einheit liegt für Duerr der Keim für eine Staatsräson, die mystischen Praktiken und Religionen zivilgesellschaftliche Freiheiten garantiert, ohne ihren Platz in einem vor allem auf Wissenschaften und Technologien zurückgreifenden staatlichen Gemeinwesen mit übergroßem Respekt auszugestalten.
Kulturrelativismus war eine wichtige Errungenschaft der um die Werke von Autoren wie Malinowski, Boas, Lévi-Strauss und Evans-Pritchard herum errichteten Kultur- und Sozialanthropologie. Er hat sich im Prozess der Dekolonisierung in viele andere westliche Wissenschaften verbreitet und auch die deutschsprachige Ethnologie zu einer expandierenden geisteswissenschaftlichen Disziplin gemacht. Doch heute geht es darum, das idealistische Moment des Kulturrelativismus, seine politische Überkorrektheit, seine unrealistische Überspitzung kultureller Stabilität (zumal bei "den Indigenen") und seine ins Leere gehende Dauer-Dekonstruktion als Problem zu erkennen. Sich rational und demokratisch verstehende Gemeinwesen brauchen Gründe, wenn sie sich gezwungen sehen, gegen überschäumendes Reenactment von "kultureller Tradition" oder "Religion" vorzugehen. Duerrs Relativierung der Bedeutung kultureller Differenzen unter Beibehaltung des relativistischen Respekts vor allen von Menschen gemachten Aussagen könnte also Schule machen.
THOMAS HAUSCHILD
Hans Peter Duerr: "Die dunkle Nacht der Seele". Nahtod-Erfahrungen und Jenseitsreisen.
Insel Verlag, Berlin 2015. 692 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vordergründig handelt es sich bei Duerrs Buch um eine ethnologische Antwort auf die Konjunktur populärer, wissenschaftlicher und pseudowissenschaftlicher Literatur zu visionärer "Nahtod-Erfahrung" und "außerkörperliche Erfahrung", wie sie bei Reanimation oder Schockzuständen auftreten sollen. In dieser Literatur werden die Sichtung eines "Lebensfilms", das Heraustreten eines ichbewussten Phantomkörpers aus dem physischen Körper, Tunnel- und Erleuchtungserlebnisse, Begegnung mit Verstorbenen und paradiesähnliche Situationen meist als Beweis für das Weiterleben der Seele nach dem Tode genommen. Triebkraft der Nahtod-Mode ist der Wirklichkeitscharakter - im Unterschied etwa zum gewöhnlichen Traum - der als einmalig und überwältigend erfahrenen Visionen.
Hans Peter Duerr nimmt diese Visionsliteratur als populäre Erzählung ernst und erteilt zugleich dem parawissenschaftlichen Argument der Seelenkundler unterschiedlicher Couleur eine deutliche Absage. Dazu bedient er sich eines multikulturellen Verfahrens: Die Aussagen heutiger Nahtod-Erzähler und ihrer medizinischen Begleiter sowie der Versuchspersonen der neurobiologisch grundierten Bewusstseinsforschung werden in diesem Buch zusammengestellt mit den Zeugnissen kulturhistorisch überlieferter Ekstasen und den zahlreichen Berichten über außerkörperliche Erfahrung und Jenseitsvision, welche in Jahrhunderten ethnologischer Forschung bei sogenannten Primitiven aufgelaufen sind. Das schafft zum einen eine ungewohnte, gegen koloniale Abgrenzungen gerichtete Leseerfahrung. Und zum anderen entpuppt sich diesem universalistischen und egalitären Vorgehen die esoterische Interpretation der Nahtod-Erfahrung als Unsinn.
Zunächst wird durch Duerrs Untersuchungen deutlich, dass die Erfahrungen, welche Menschen im Zustand vermeintliche oder wirklicher Todesnähe machen können, nicht immer gut und positiv-visionär sind. Sie können auch inkohärent, desorientierend und erschreckend sein. Die sehr unterschiedlichen auslösenden Situationen der Außerkörperlichkeit lehren aber auch, dass es keine klare Korrelation zwischen Hirntod und Ekstasen gibt. Viele angeblich "klinische Fälle" belegen bei näherer Betrachtung, dass auch Menschen, die sich dem Tod lediglich nahe fühlen, Erfahrungen dieser Art machen, dass diese spontan im Alltag auftreten können und dass im Falle von Schwerverletzten unter Reanimation das gleichzeitige Auftreten von Ekstase und Hirntod nicht bewiesen werden kann. Es handelt sich eben doch um traumartige Erlebnisse, auch wenn sie den gewohnten Träumen und Halluzinationen so wenig gleichen.
Diese Erlebnisse sind ein Erbe der Menschheit, das sich irgendwie, wir wissen nicht, wie, im Dickicht der Neuronen abspielt. Die Erzählungen von diesen Erlebnissen jedoch (und deren Dogmatisierung, Kontrolle, Medikalisierung, Verrechtlichung) sind historisch-kulturelles Erbe einzelner Menschengruppen. Es gibt keinen Sinn, als Materialist gleich auf die "oberste Eskalationsstufe" (Duerr) der Kritik zu steigen und Menschen, die von diesen Erfahrungen berichten, einfach als Schwindler oder Primitive hinzustellen. Genauso unsinnig ist es aber, die Überprüfung ihrer Glaubwürdigkeit völlig abzulehnen und einer Idee der Begegnung unterschiedlicher Formen von Schilderungen mit Wahrheitsanspruch "auf Augenhöhe" zu huldigen. Vierzig Jahre nach "Traumzeit" pocht Duerr also darauf, dass es auf diesem Terrain Aussagen gibt, die mehr, und solche, die weniger Glaubwürdigkeit verdienen. Moderater Konstruktivismus und Universalismus sind an die Stelle der puren Dekonstruktion und des postmodernen Nebeneinanders von Wahrheitsansprüchen getreten.
Der deutschsprachige "Ethno-Boom" der siebziger Jahre nahm die postkoloniale "Writing Culture" der nordamerikanischen Kulturanthropologie und damit den heutigen internationalen Mainstream des Faches um zehn Jahre vorweg. Doch Duerr warnt uns heute davor, im Dialog der Kulturen und Religionen die Position der Aufklärung und des naturwissenschaftlichen Rationalismus lediglich als eine von vielen Möglichkeiten der Weltwahrnehmung zu betrachten. Seine Untersuchungen mystischer Zustände behandeln zwar die einschlägigen Befunde einer naturwissenschaftlich orientierten Medizin auf einer Ebene mit den Aufzeichnungen von Mystikern, Ritualforschern und Chronisten der Vergangenheit und Gegenwart.
Doch Duerrs Buch führt von der Wittgensteinschen Idee der "Überlappung" und "Translation" zwischen Weltbildern zur Beobachtung, dass diese Basis von Verstehen und Interpretation in der physischen Einheit der Rasse Homo sapiens begründet ist. In dieser physischen und rudimentären psychischen Einheit liegt für Duerr der Keim für eine Staatsräson, die mystischen Praktiken und Religionen zivilgesellschaftliche Freiheiten garantiert, ohne ihren Platz in einem vor allem auf Wissenschaften und Technologien zurückgreifenden staatlichen Gemeinwesen mit übergroßem Respekt auszugestalten.
Kulturrelativismus war eine wichtige Errungenschaft der um die Werke von Autoren wie Malinowski, Boas, Lévi-Strauss und Evans-Pritchard herum errichteten Kultur- und Sozialanthropologie. Er hat sich im Prozess der Dekolonisierung in viele andere westliche Wissenschaften verbreitet und auch die deutschsprachige Ethnologie zu einer expandierenden geisteswissenschaftlichen Disziplin gemacht. Doch heute geht es darum, das idealistische Moment des Kulturrelativismus, seine politische Überkorrektheit, seine unrealistische Überspitzung kultureller Stabilität (zumal bei "den Indigenen") und seine ins Leere gehende Dauer-Dekonstruktion als Problem zu erkennen. Sich rational und demokratisch verstehende Gemeinwesen brauchen Gründe, wenn sie sich gezwungen sehen, gegen überschäumendes Reenactment von "kultureller Tradition" oder "Religion" vorzugehen. Duerrs Relativierung der Bedeutung kultureller Differenzen unter Beibehaltung des relativistischen Respekts vor allen von Menschen gemachten Aussagen könnte also Schule machen.
THOMAS HAUSCHILD
Hans Peter Duerr: "Die dunkle Nacht der Seele". Nahtod-Erfahrungen und Jenseitsreisen.
Insel Verlag, Berlin 2015. 692 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»... ein faszinierendes Buch über Nahtod-Erfahrungen« Otto A. Böhmer Frankfurter Rundschau 20160216
Mit seinem neuen, umfangreichen Buch, in dem er an seine frühen Bücher „Traumzeit“ (1978) und „Der Wissenschaftler und das Irrationale“ (1981) anknüpft, hat der Ethnologe, Philosoph und Bewusstseinsforscher Hans Peter Duerr eine umfassende …
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Mit seinem neuen, umfangreichen Buch, in dem er an seine frühen Bücher „Traumzeit“ (1978) und „Der Wissenschaftler und das Irrationale“ (1981) anknüpft, hat der Ethnologe, Philosoph und Bewusstseinsforscher Hans Peter Duerr eine umfassende Bestandsaufnahme sogenannter Jenseitsreisen, außerkörperlicher Erfahrungen und Nahtoderlebnisse vorgelegt, die es keinem erstzunehmenden Wissenschaftler mehr erlaubt, an der Faktizität der geschilderten Erlebnisse zu zweifeln. Das Buch kann daher jetzt schon als Standardwerk künftiger Forschung bezeichnet werden. Duerr hat darin etwa 3540 Bücher und Aufsätze ausgewertet, eine Fleißarbeit ohne gleichen. Qualifiziert für die Aufarbeitung des Themas ist er zudem durch eigene außerkörperliche Erfahrungen, Nahtoderlebnisse und Drogenerfahrungen, die ihm bei der Differenzierung der in Frage stehenden Phänomene gute Dienste leisten. Die Bestandsaufnahme bezieht sich ebenso auf zahlreiche der im Laufe der Geschichte vorgebrachten Ansätze des Verstehens und Erklärens, die Duerr allerdings nicht systematisch aufarbeitet, sondern bei passender Gelegenheit mit kurzen, oft klaren und treffenden Bemerkungen charakterisiert und in ihre Grenzen verweist. Dass dabei sprachkritischen Überlegungen eine bedeutsame Rolle zukommt, war zu erwarten. Überraschend und erstaunlich ist allerdings, dass der zweite große Denker, den Duerr früh gelesen und bewundert hat, im Literaturverzeichnis gänzlich fehlt: Friedrich Nietzsche. Heißt das, dass Duerr die Auseinandersetzung mit dem „Irrationalen“ inzwischen ausschließlich von der sprachphilosophisch scheinbar gesicherten Insel abendländischer Rationalität aus führt?
Berücksichtigt werden von ihm zahlreiche wichtige medizinische, physiologische, psychiatrische, ethnologische und philosophische Erkenntnisse und Argumentationen, ein solides Handwerkszeug, um wild wuchernde Phantasien und Irrtümer zu beschneiden. Glaubt er damit aber etwa die traumähnliche Welterfahrung des tantrischen Buddhismus in Frage stellen zu können, greift er deutlich zu kurz. Ontologische Grundfragen lassen sich auf diese Weise nicht „abschneiden“.
Auch blendet Duerr aus, was man spätestens wieder seit Heidegger über das Wesen metaphysischer Fragen und Antworten weiß: Sie sagen weniger etwas über „Gott“ und „Jenseits“ aus, als über das Entwicklungspotenzial des menschlichen Erlebens. Auch die Frage nach der Bedeutung, Auswirkung des im „Jenseits“ der Alltagswelt Erlebten für unser Leben kommt leider zu kurz. Die Frage nach dem „ontologischen“ Status der Erlebnisweisen tritt dahinter erst einmal zurück. „Nenn es einen Traum“, schrieb Wittgenstein, „es ändert nichts“.
Dass Duerr auch zeitgenössische Philosophen und Bewusstseinsforscher berücksichtigt, Thomas Metzinger etwa und Jochen Kirchhoff, deutet darauf hin, dass er, nachdem er die Philosophie seinen groß angelegten kulturphilosophischen Projekten wegen seit langem nicht mehr weiter verfolgt hatte, inzwischen wieder den Anschluss gesucht und gefunden hat
Heidegger hatte Duerr vor Jahrzehnten in einem Gespräch bescheinigt hatte, das „Zeug“ zum Philosophen zu haben. Duerr allerdings war damals bereits davon überzeugt, dass Wittgenstein die Probleme der Philosophie bereits endgültig gelöst habe. Eine, auch im Nachhinein, vielleicht doch allzu voreilige Überzeugung.
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