nebeneinander gemacht sein; erwäge man, ob wir zusammengehören." So gedachte der ältere Jacob Grimm 1860 vor der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin seines im Vorjahr verstorbenen Bruders Wilhelm und beschrieb eine lebenslange geschwisterliche Gemeinschaft, die selbst in der an eng verbundenen Geschwisterpaaren nicht armen Romantik ihresgleichen nicht hat. Auch nach seiner Heirat mit Dorothea Wild blieb Wilhelm immer zuerst der Bruder des unverehelicht gebliebenen Jacob.
Die Brüder selbst, nach ihnen aber auch die Grimm-Forschung haben die Gemeinschaft beider Männer immer betont, und zwar so stark, daß darüber meist vergessen wird, daß zur Familie noch eine Reihe weiterer Geschwister gehörte, darunter der achtbare Maler und Zeichner Ludwig Emil Grimm, von dem auch mehrere der rund vierzig Abbildungen des Bandes stammen, und die mit dem hessischen Minister Ludwig Hassenpflug verheiratete Schwester Lotte. Vernachlässigt hat man auch, die durchaus abgrenzbaren individuellen Anteile der Brüder am gemeinsamen Werk zu unterscheiden oder ihren durchaus verschiedenartigen Charakteren gerecht zu werden. Nach dem Studium in Marburg - aus Pietät gegen den Wunsch des verstorbenen Vaters, nicht aus Neigung hatten sich beide Männer der Jurisprudenz zugewandt - liefen die Lebenswege nur ein paarmal kurz auseinander, als der zwanzigjährige Jacob 1805 für mehrere Monate nach Paris ging und 1814/15 zunächst mit den alliierten Truppen in Paris, dann beim Wiener Kongreß weilte, bevor sie ihre Ämter an den Bibliotheken in Kassel und Göttingen beziehungsweise als Professoren an der dortigen Universität antraten. Nach der Teilnahme am Protest der Göttinger Sieben 1837 aus dem Dienst des Königreichs Hannover entlassen, entfalteten die Brüder seit der Berufung nach Berlin 1840 eine rund zwanzigjährige Tätigkeit im Dienst einer Germanistik, die sie auch als einen Beitrag zur Bildung einer deutschen Nation verstanden.
Wer in den Brüdern noch immer nur die Sammler der Märchen sieht, weiß nichts von ihnen, denn entgegen dem von ihnen selbst im Geiste der Romantik verbreiteten Anschein haben sie - Wilhelm mehr als Jacob - diese nicht nur gesammelt, sondern ihnen erst ihre literarische Form gegeben. Und allzuoft geraten über den Märchen die anderen großen, für die Wissenschaft noch bedeutenderen Leistungen der Brüder aus dem Blick: Jacob Grimms "Deutsche Grammatik" stellt den Beginn der historischen Sprachwissenschaft dar und hat die Voraussetzungen für die textkritischen Editionen der Mittelalterphilologie geschaffen. Dem weiten Begriff von Wissenschaft, wie ihn vor allem der ältere Bruder Jacob vertreten hatte, entspricht eine Konzeption von Germanistik, die über Sprache und Literur hinausweist: Bis heute unentbehrliche Quellensammlungen für die Rechts- und Religionsgeschichte sind die "Deutschen Rechtsalthertümer" (1812), die "Weisthümer" (1840-1863) sowie die "Deutsche Mythologie" (1835-1844). Beim "Deutschen Wörterbuch", einem Jahrhundertunternehmen in jeder Hinsicht, haben die Grimms das Exzerpieren der zahllosen Belegstellen auf viele Mitarbeiter an verschiedenen Orten verteilt und damit in den Geisteswissenschaften das Modell organisierter Großforschung eingeführt, an dem sich später die Langzeitvorhaben wissenschaftlicher Akademien orientiert haben.
Seit etwa vierzig Jahren ist viel Bewegung in die Grimm-Forschung gekommen: durch sorgfältige Editionen - etwa der Urfassung der Märchen in der Handschrift von 1810, zahlreicher Briefwechsel und manch anderen Quellenfundes - oder die Erschließung der Grimmschen Bibliothek, dazu durch zahlreiche Studien, die im Zusammenhang eines gewachsenen Interesses der Germanistik an ihrer eigenen frühen Geschichte stehen und den Verbindungen der Brüder zu Gelehrten wie Georg Gottfried Gervinus und Karl Lachmann gelten. Da ist eine, wie knapp auch immer gehaltene Biographie längst überfällig gewesen.
Der Versuch von Schede wendet sich, dem Charakter der Reihe entsprechend, an ein breiteres Publikum, macht aber keine Zugeständnisse an die Seriosität und findet durchweg zu einem ausgewogenen Verhältnis zwischen übersichtlicher Raffung und dem für das Vorhaben unerläßlichen Reichtum. Es gelingt dem Verfasser, sowohl in Werk und Arbeit der Brüder die Spuren einer politisch aufgeregten Zeit zu spiegeln als auch beider Einfluß auf ihre Zeitgenossen sichtbar werden zu lassen - mehr kann man von einer knappen Biographie nicht verlangen.
HANS-ALBRECHT KOCH
Hans-Georg Schede: "Die Brüder Grimm". Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2004. 191 S., br., 10,- [Euro].
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