gewonnen.
Jetzt ist sie Suhrkamp-Autorin. Mit "Die Anstalt der besseren Mädchen" hat sie ein Psychogramm einer jungen Frau geschaffen, das zugleich hochkomplex und fast banal ist: In Loretta vereinigen sich Kind und Erwachsene, intellektuelle Fähigkeit mit kindlicher Verantwortungslosigkeit. Loretta denkt nicht, sie handelt auch nicht, sie lässt sich einfach treiben. Wenn ihr Freund Malte ihr nicht einen Zettel mit Aufgaben für den Tag hinlegt, ist sie aufgeschmissen. Wenn er es tut, ist sie es auch, denn sie erfüllt die Aufgaben meist sowieso nicht. Als "Kind im Gesicht und im Geist" wird sie beschrieben, klein, blond und problematisch. Loretta mag klinische Sauberkeit, sammelt ausgeschnittene Tierfotos in Mappen und isst nur Blödsinn: "Milky Ways, trockene Mohnbrötchen, rosafarbene Donuts. Nudeln mit Sahnesoße, Schokopops mit Milch. Pure Butter und Mangolassi."
In manchen Dingen ist Loretta allerdings unerwartet alltagstauglich, wenn auch unkonventionell. Fisch nimmt sie mit Maltes Operationsübungs-Skalpell aus, bis der ihr Einhalt gebietet. Überhaupt hat diese Beziehung Ähnlichkeit mit der Erziehung einer depressiven Pubertierenden. Malte beschützt Loretta, schenkt ihr Aufmerksamkeit und sieht über halbherzige Selbstmordversuche freundlich hinweg. Er holt sie morgens aus dem Bett, "zieht sie an und auf". Nicht immer zu ihrer Begeisterung: "Morgen früh wird er sie wieder aus dem Bett zerren, wenn sie ihm nicht vorher schon die Nase zertrümmert hat." Denn Loretta bringt auch jede Menge kindlichen Eigensinn mit.
Schon Loretta hat einige Ähnlichkeit mit Nabokovs Lolita. Einen zarten Hinweis bildet der Name: Lolita wird Lola genannt, Loretta Lorchen - und beide sind immer wieder Lo, bei Julia Zange ausgesprochen wie "low". Klar: Großstadt, einundzwanzigstes Jahrhundert. Als Loretta schwanger wird, kommt mit Marla ein Mädchen zur Welt, das die Autorin als "Doppelkindchen" bezeichnet, das Kind eines Kindes: "Diese Mädchen sind die potentiellen Verführerinnen, werden oft nicht älter als 25 Jahre, weil sie an Selbstverführung zugrunde gehen." Die ultimative Lolita scheint da geboren worden zu sein.
Unter den Kleidern steckt ein kleiner Dämon.
Die Mutter verzweifelt schier daran und zeigt dabei wenig von ihrer üblichen Naivität: "Schau sie doch mal an. In spätestens zwei Jahren werden die Männer steife Schwänze bekommen, wenn sie sie im Buggy sitzen sehen . . . Marla ist die Reinheit, aber auch verdorben. Sie ist berechnend." Bei Nabokov klingt das, wenn Humbert Humbert die "Nymphchen" beschreibt, so: "um an unbeschreibbaren Anzeichen - der leichtgeschwungenen Raubtierkontur eines Backenknochens, dem Flaum an den schlanken Gliedern und anderen Merkmalen, die aufzuzählen mir Verzweiflung, Scham und Tränen der Zärtlichkeit verbieten - sofort den tödlichen kleinen Dämon unter den normalen Kindern zu erkennen".
Den wortreichen Nabokovschen Stil hat Zange nicht übernommen. Ihre Spezialität sind schlichte Formulierungen, aber dafür haufenweise Bilder; je impressionistischer, desto besser: "Wenn man die Natur heute als eine Oberfläche betrachten würde und mit einer Nadel hineinstäche, würde sie zäh tropfen wie Milch aus einem Gummibaum." Ein eigenes Kapitel bildet eine Art Walpurgisnacht, in der die Realität außer Kraft gesetzt ist - inhaltlich leer, aber sprachlich anmutig: "Der Himmel ist rosa, durchzogen mit Hyänenfellstreifen in blassem Gelb. In der Prinzessinnenstraße pellt ein Junge sich gerade aus der Schale und streift besonders säuberlich die weißen Häute ab."
Als Loretta in einer psychosomatischen Klinik landet, die eine Patientin treffend "Fundstelle für waidwunde Seelen" nennt, beginnt die Romanbelegschaft erst richtig abseitig zu werden. Loretta wandelt durch zahlreiche Neurosengärten - doch die Figuren werden erstaunlicherweise niemals nervig. Wie gestört und dabei unterhaltsam die Menschen sind, wird in einer Partyszene deutlich. Eine Blase aus Kleber fliegt durch den Raum: "Zoe, die ihr Innerstes nach außen zu stülpen pflegt, denn sie ist eine von den Schauspielstudentinnen, denen man die Beschäftigung mit jedem einzelnen ihrer Moleküle auferlegt, schreit gen Himmel: ,Es ist mein Uterus. Er fliegt.'" Zange beschreibt ihre Figuren nie boshaft, aber stets entlarvend. Ein feiner, kleiner Roman ist ihr gelungen. Sie bringt ihre Leser dazu, die eigenartigsten Verhaltensweisen wertfrei zu betrachten. Da soll noch jemand behaupten, Literatur könne einem nichts beibringen, das man für den Alltag bräuchte.
Julia Zange: "Die Anstalt der besseren Mädchen". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 158 S., geb., 15,- [Euro].
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