kann man schlecht etwas sagen, die anderen Leute haben sie auch nötig, und Beifall braucht man nicht zu begründen. Daneben bewirken ethische Sätze Langeweile. Ihr Prinzip ist seit dem Alten Testament bekannt: "Was du verabscheust, tu keinem anderen an" (Tobias 4,15). Kant hat diese goldene Regel zum kategorischen Imperativ verfeinert. Heute fordern die Philosophen, ethische Normen müßten universal für alle Menschen begründbar sein. Aber eine universalistische Moral ist paradox, weil sich die Menschen nur darin gleichen, daß sie verschieden sind. Ist man zum Handeln gezwungen, muß man die Paradoxie daher verkleinern oder vernebeln, indem man mit Einzelfällen, Einschränkungen, Ausnahmen oder leeren Abstraktionen arbeitet. Muß man nicht handeln, kann man das Kleinarbeiten der Paradoxie sogar beobachten.
Der Berliner Philosoph Ernst Tugendhat will moralisches Verhalten nicht distanziert beobachten, er will richtige ethische Sätze aufstellen, gleichsam für die Handelnden argumentieren. Aber - und das unterscheidet ihn von den meisten Ethikern - er spürt den kalten Hauch der Paradoxie im Nacken. Denn er ist es leid, sich immer wieder revidieren zu müssen. Deshalb unterwirft er eigene frühere Überlegungen einer Kritik, die sich keine Lauheit gestattet. Der Dialog mit einem alten Lehrer, der nicht vor den Nazis, sondern vor einer dominikanischen Schreckensherrschaft geflohen ist, schließt Totschlagsargumente ("faschistoid"), und der Ort des Dialoges, Leticia am Amazonas, eine Stadt zwischen zwei Welten, schließt kulturelle Relativierungen moralischer Normen von vornherein weitgehend aus.
Hat man sich klargemacht, daß Tugendhats Ethik nicht einfach eine auf Widerspruchsfreiheit zielende Kombination ethischer Sätze ist, sondern mit höchsten moralischen Ansprüchen auftritt, wird das Buch zu einer spannenden Lektüre und der Leser Teilnehmer des Dialogs der beiden Ethik-Experten: Natürlich muß man sprachanalytisch ansetzen, weil man nicht mehr als Sprache hat. Natürlich werden Begründungen wichtig. Ungleichbehandlungen müssen immer begründet werden. Natürlich muß man sich über Unmoral empören. Sonst wäre sie folgenlos. Und natürlich steckt in der Empörung eine "tendenzielle Exkommunikation" des Übeltäters. Deshalb ist Moral "eine ziemlich blutrünstige Angelegenheit".
Der Clou ist Tugendhats Vorschlag, "Korruption" zu entmoralisieren und dafür mit schärferen formalen Sanktionen zu belegen. "Korruption" steht hier für all die Normverstöße, die, obwohl schädlich und unerwünscht, weder Empörung noch Schuldgefühle auslösen, weil sie niemanden individuell schädigen, wie Schwarzfahren in der U-Bahn. Das bekannte Stasi-IM-Argument: "Ich habe niemanden geschädigt", ist damit nicht länger gerechtfertigt. Ein Vertrauensbruch schädigt die hintergangenen Individuen. Tugendhats Vorschlag hat den Vorteil, daß er den Anwendungsbereich der Ethik auf Person-zu-Person-Verhältnisse beschränkt und den einzelnen von der Verantwortung für Organisationsfunktionen entlastet, die er ohnehin nicht allein tragen kann.
Tugendhat will mit diesem Gedanken jedoch auch die Moral gegen die Politik verteidigen. Formale Sanktionen haben nur eine begrenzte Reichweite und werden oft durch moralischen Druck ergänzt. Genau das hält Tugendhat für eine unmoralische Instrumentalisierung der Moral. Diese Theorie der unbefleckten Moral muß sich allerdings fragen lassen, wie man Korruption mit schärferen formalen Sanktionen bekämpfen kann, wenn die Reichweite solcher Sanktionen begrenzt ist. Mehr noch: Befleckt nicht schon der Gedanke, man könne Moral durch Recht ersetzen, die Reinheit der Moral? Aber der Dialog ist nicht beendet, nur abgebrochen. Hoffen wir, daß Tugendhat dem alten Lehrer bald wieder begegnet. GERD ROELLECKE
Ernst Tugendhat: "Dialog in Leticia". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 143 S, br., 16,80 DM.
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