kombiniert mit einem Habitus des Unangestrengten.
Auch Alexander Demandt breitet in seinen Büchern Schätze eines stupenden Gedächtnisses und prall mit Fakten, Erklärungen, Geschichten gefüllter Zettelkästen aus, angereichert durch Selbsterlebtes aus Tagebüchern, Briefen und Erinnertem. Listig bringt er damit zwei einst selbstverständliche Säulen der Orientierung in der Welt zu Ehren: Wissen und Arbeit. Dabei pflegt er eine additive Ordnung: Der Stoff wird nach verschiedenen Achsen sortiert und dann wie Perlen auf Schnüre gezogen. Diese Bildung ist Instrument bürgerlicher Weltbewältigung.
Nach der Zeit (F.A.Z. vom 10. Oktober 2015) hat sich Demandt nun in dieser Manier die Grenzen vorgenommen - abermals einen wahrhaft universalen Gegenstand! Ausführlich bestimmt er zunächst Grenze als Grundkategorie menschlicher wie sozialer Existenz, im Raum, in der Zeit, im Kosmos und in der sachlichen Systematik von Feldern wie Politik, Recht oder Wirtschaft. Wer Grenzen für obsolet, ja böse hält, sieht sich belehrt: Alle Erscheinungen gewinnen Individualität und Identität erst durch Abgrenzung; jeder Gegenstand, den wir erkennen, zeigt sich in seinen Konturen, erst Begrenzung ermöglicht, zu unterscheiden und damit Formen und Gestalten zu erkennen. Der Autor erinnert an elementare erkenntnistheoretische Tatsachen, die auch in aktuellen Diskurskämpfen zur Geltung kommen: Wem Grenzen zwischen Staaten oder Geschlechtern als hinderlich, gar schädlich erscheinen, wird sich zugleich mit Verve gegen "rechts" abschotten. Grenzen und Grenzvorstellungen sedimentieren oder sind veränderlich; für beide Phänomene bietet das Buch Hekatomben von Beispielen. Ein listiger Trost, denn angesichts der schier unendlichen Fülle des hier über das Thema durch die Jahrtausende Gewussten werden die Abgrenzungskonflikte des Tages zu Wimpernschlägen. Argumente, um bestimmte Scheidungen festzuschreiben, finden sich hier eher nicht, dafür anthropologische Gemeinplätze: Der Mensch vertrage weder die generelle Entgrenzung noch die universelle Eingrenzung.
Die chronologische Darstellung folgt den üblichen Großepochen, wobei der Alte Orient (China eingeschlossen), die Griechen und die Römer breiten Raum erhalten, während "Germanen und Mittelalter" eher knapp abgemacht werden. Das lange Kapitel zur Neuzeit ist nach Großregionen gegliedert und behandelt vorwiegend die Staatengrenzen. Ergänzend treten in gleicher Anlage gut sechzig Seiten über Kriegs- und Nachkriegszeit hinzu - die Einteilung spiegelt die Generationenerfahrung des 1937 geborenen Verfassers.
Den Duktus des Buches mag als Beispiel der Absatz über die Landenge von Perekop zwischen der Ukraine und der Krim erhellen. Diese werde im Osten durch ein Sumpfgebiet gesperrt, im Westen gebe es seit alters einen Grenzgraben, daher der griechische Stadtname Taphros. Die Tabula Peutingeriana notiere: "Graben gemacht durch die Sklaven der Skythen." Dieser wurde dann "im 15. Jahrhundert vom Khan der Krimtataren auf der Südseite durch eine Mauer verstärkt, die von den Russen bis zur Annexion der zuvor türkischen Krim 1783 mehrfach genommen wurde. 1944 deportierte Stalin die Krimtataren und ersetzte sie durch Russen. Die Krimrussen gehörten seit 1954 zur Ukraine, bis sie sich 2014 durch ,unzulässigen' Volksentscheid an Rußland anschlossen." Um die Krim wiederum gegen die Ukraine abzuschließen, "zog Rußland 2018 in alter Tradition einen 60 Kilometer langen Zaun über den Hals der Halbinsel. Eine zweite Geländegrenze schützte die Landzunge, die sich von Theodosia ostwärts nach Pantikapaion-Kertsch erstreckt. Hier baute um 40 v. Chr. der bosporanische König Asandros gegen die Krimskythen eine Nord-Süd-Mauer vom Asowschen zum Schwarzen Meer, verstärkt durch zehn Türme im Abstand eines Stadions zu 180 Metern."
Merkformeln und Aphorismen sollen wohl Orientierung im Meer der Fakten bieten. Beispiele von religiös oder ideologisch geprägten Grenzregimen etwa werden mit der Bemerkung beschlossen, muslimischer Fundamentalismus und westlicher Liberalismus wechselten im Nahen Osten "mit den Generationen. Mal so, mal anders. Optimisten deuten das als Übergangserscheinung, Realisten als orientalische Normalität." Als Weisheit eines Alten vom Berge mag das durchgehen. Eine Seite weiter sieht sich der Leser ebenso reizend wie erhellend über die Funktion des Rahmens für ein Gemälde belehrt. Und "schmuckvoll gestaltete Kragen sind Amts- und Rangabzeichen für Richter, Pfarrer und Offiziere, nobilitieren den Kopf".
Sucht man in dieser Ausschüttung nützlichen Wissens - kaum eine Buchseite bietet weniger als zwanzig distinkte Informationen - einen roten Faden, so wäre dies wohl ein robuster Common Sense, gepaart mit mancherlei Sarkasmen. Vor Jahrzehnten hat Demandt einen schönen Aufsatz über Politik in den Fabeln Aesops publiziert, und sein Bild des Verhältnisses von Macht und Recht bewegt sich in der Fluchtlinie der resignierten Klugheit der Schwachen in diesen Texten. Besonders das Völkerrecht und die UN nimmt er gern aufs Korn, seien doch die Resolutionen und Charten letzterer, "um mit Mao zu sprechen - Papiertiger". Recht erwachse aus der Angst vor dem Unrecht, das ein Schwacher fürchten, ein Starker nicht scheuen müsse, so der Prophet Habakuk und der Dichter Horaz. Lehnte nicht Romulus feste Landesgrenzen ab, weil sie einen dynamischen Staat entweder fesselten oder ins Unrecht setzten? Erst sein Nachfolger Numa, so erfahren wir via Demandt von Plutarch, fixierte Staatsgrenzen und erkannte damit fremdes Recht an. Rom jedoch haben Grenzen auch danach nie an der Expansion gehindert.
UWE WALTER
Alexander Demandt: "Grenzen". Geschichte und Gegenwart.
Propyläen Verlag, Berlin 2020. 656 S., geb., 28,- [Euro].
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