in einem eigenen Esszimmer, sondern eben in einer kleinen Nische dazwischen, wenn möglich mit einer Durchreiche zur Arbeitsküche."
Da wird so mancher Leser seufzen: "Ach!". Auch Wirtschafts- und Sozialpolitiker können hier feuchte Augen bekommen, wenn es heißt: "Das Versandhaus Neckermann köderte 1961 Arbeitskräfte mit dem Angebot, sie würden morgens mit firmeneigenem Fahrzeug zu Hause abgeholt, um ihnen die Zumutung öffentlicher Verkehrsmittel zu ersparen. Die Bundesregierung beschloss im August jenes Jahres, dass bis zum 31. Januar 1962 keine Arbeitslosenversicherung mehr zu entrichten sei, denn die Kassen waren übervoll."
Axel Schildt und Detlef Siegfried vollbringen eine beeindruckende Syntheseleistung und überwinden die Selbsteinengungen vieler bisheriger Kulturgeschichten. Denn sie sprechen von populärer Kultur, stellen Filme und Schlager vor, aber integrieren genauso souverän Gedichte von Benn und Enzensberger in ihre Darstellung; sie nennen Institutionen und Medien, beschreiben etwa die Zeitschriften der Nachkriegszeit, um dann die dort vertretenen Gesellschaftskonzepte zu analysieren; sie informieren über Lebensformen, über Sport und Sexualität, aber sie begeben sich auch in die Verästelungen der politischen Kultur und schreiben Ideengeschichte auf hohem Niveau.
So erörtert Schildt die "Abendland"-Ideologie der fünfziger Jahre, die der als ungenügend angesehenen "Formaldemokratie" der Bundesrepublik ein weltanschauliches Fundament geben wollte. Dabei näherte sie den neuen Staat trotz mancher Vorbehalte Westeuropa an, um gleichzeitig den Antiamerikanismus der intellektuellen Eliten "im Schatzkästlein der Ressentiments" aufzubewahren. Schließlich gewann sie bei allem Anachronismus ihres Gesellschaftsbildes eine positive Funktion für die Verankerung der Bundesrepublik im Westen - solche Erörterungen gelingen meisterhaft.
Bei aller Genauigkeit des Begriffs und bei Einbeziehung des neuesten Forschungsstandes verschiedener Wissenschaften bleibt Platz für eine klug ausgewählte Bebilderung und für eine sachlich-feine Form der Ironie: "Ein Beispiel für die Erzeugung von Empathie durch eine mediale Brücke für weit entfernt lebende Wesen lieferte zur besten Sendezeit nach der Tagesschau ,Ein Platz für Tiere' des wertkonservativen Frankfurter Zoodirektors Bernhard Grzimek, der häufig in Begleitung eines Affen, bisweilen auch eines anderen Tieres, im Studio erschien."
Bemerkenswert ist aber nicht nur, wie Schildt heterogene Erscheinungen zum Panorama einer Gesellschaft zusammenfasst, sondern auch, wie entschieden er sich von lange gepflegten Bewertungen trennt. Dies ist keine Heldengeschichte der Nachkriegsintelligenz; hier wird die Durchsetzung der abstrakten Malerei in Westdeutschland nicht gerechtfertigt, sondern analysiert; hier wird auf Traditionen der ersten Jahrhunderthälfte hingewiesen, die das Denken der Nachkriegsjahrzehnte bestimmten, wenn etwa bündisch sozialisierte Jugendliche nach 1945 ihre Demokratiekritik fortsetzten. Jeder intellektuelle Hochmut ist den Verfassern fremd.
Diese hervorragende Qualität besitzt die "Deutsche Kulturgeschichte" allerdings vor allem in den ersten Kapiteln zu den fünfziger und sechziger Jahren, die von Axel Schildt stammen. Auch der zweite Teil, den Detlef Siegfried verantwortet, ist informativ, bietet einige glänzende Darstellungen, so zur postmodernen Architektur, und führt vor, wie man mit Neckermann-Katalogen Mentalitätsgeschichte betreibt. Aber hier fehlt die Weite des Blicks: Kultur ist nun ausschließlich linke Kultur, findet sehr oft in Hamburg statt und ist ständig von einer "konservativen Gegenmobilisierung" bedroht, die die "zackige Norm maskuliner Selbstzucht" wiederaufrichten will. Selbst die siebziger Jahre atmeten noch einen repressiven Geist, doch gab es zum Glück "Performances an subkulturellen Orten", aus denen weitere "Demokratisierungseffekte" hervorgingen.
Wo in einem derart einfachen Raster von Fortschritt und Reaktion ein Autor wie Odo Marquard seinen Platz hätte, erfahren wir nicht, denn er kommt nicht vor. Von den alternativen Bewegungen heißt es triumphierend, dass sie in der Verfassung nicht vorgesehen seien; ja, warum sollten sie auch? Der Vorbehalt der älteren Kulturgeschichte gegenüber großen Individuen ist deutlich zu spüren. Hinzu kommen Leervokabeln wie "Authentizität" und "Gegenkultur". Ausgezeichnet dann aber wieder das Foto eines jungen Mannes mit sehr langen Haaren, der vor einem Friseurgeschäft sitzt, Unterschrift: "In den sechziger Jahren funktioniert die Haartracht als kulturelles Unterscheidungsmerkmal." Wer noch einmal in die Lebensformen, das Denken und Fühlen der Bundesrepublik eindringen will, der besitzt mit diesem Buch einen Schatz.
DIRK VON PETERSDORFF.
Axel Schildt und Detlef Siegfried: "Deutsche Kulturgeschichte". Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart. Hanser Verlag, München 2009. 696 S., geb., 24,90 [Euro].
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