Untergänge in rascher Folge von 1918, 1933 und 1945 sei dieser vor allem deshalb geglückt, weil Deutschland als Bundesrepublik endlich von den Schlacken des zuvor so übermächtigen Nationalismus und einer Klassengesellschaft befreit gewesen sei. Bereits diese Leitaussagen Wehlers erklären das große Interesse an seinem neuen Werk, einer kompetenten politischen Studie, die in einer weithin orientierungslosen Zeit den historischen Sockel der Bundesrepublik kennzeichnet.
Auch die Wertschätzung der deutschen Gesellschaftsgeschichte - es soll nun noch ein fünfter, der Bundesrepublik gewidmeter Band folgen - nährte dieses Interesse. Sie wurde vor 25 Jahren konzipiert, und schon die ersten drei, zwischen 1987 und 1995 erschienenen Bände wurden als Kern des OEuvres des Bielefelder Historikers mit Lorbeer bedacht. Gleichzeitig löste Wehler wegen nicht selten kämpferisch vorgetragener Präferenzen und Aversionen jedoch Diskussionen mit rekordverdächtiger Länge und erheblicher Kritik aus, was wohl niemanden daran gehindert hat, den monumentalen Bänden ob ihrer profunden Kenntnisse und Analysen große Bedeutung zu attestieren.
Band 4 knüpft an diese Tradition nahtlos an. Es galt, Massen von vielfach kontroverser Literatur zu dem als neuerlichen "dreißigjährigen Krieg" gekennzeichneten Zeitraum zu verkraften. Hinzu kommt, daß jede Gesellschaftsgeschichte zum 20. Jahrhundert mit vielen Vorgaben aus dem Bereich der schon damals global vernetzten internationalen Politik konfrontiert wird. Solchen massiven Herausforderungen stellte sich Wehler mit beeindruckender Schaffenskraft und gedanklicher Schärfe bei Ausweitung der auf das politische Geschehen ausgerichteten Passagen.
In seinem Buch bleibt es bei Wehlers traditioneller sozialwissenschaftlicher Orientierung, verbunden mit einem starken politischen Engagement für eine aufklärerisch als modern oder fortschrittlich gekennzeichnete Welt mit christlichen, humanistischen und westlichen Werten, denen Deutschland - wenn auch eingeschränkt durch seine Sonderwege - stets verpflichtet gewesen sei. Da für Wehler eine chronologische Ereignisgeschichte in erzählendem Stil nicht in Frage kommt, bieten seine tausend Textseiten eine Fülle hochwertiger, rational vorgetragener und problemorientierter Analysen und Erklärungen von historischen Prozessen. Sie sind, teilweise mit heftigen Verdikten verbunden, zu einem in sich stimmigen Gesamtbild verwoben. Thematisch konzentriert sich der Autor wie stets auf "seine" vier Achsen: Wirtschaft, soziale Ungleichheit, politische Herrschaft und Kultur. Weitere Interessenschwerpunkte - wie der Erste Weltkrieg und die konfessionelle Frage als durchgängige Determinanten der gesellschaftlichen Entwicklung - gibt es in Fülle.
Sucht man Soll und Haben der unzähligen gedanklichen Würfe Wehlers in einem kompakten, inhaltlichen Referat zu präsentieren, dann ist zunächst die Kennzeichnung der Jahre 1914 bis 1949 als Zeitalter der Extreme zu nennen. In diesem soll die deutsche Gesellschaft schon während des bereits totalitären Ersten Weltkriegs, eines von Deutschland zu verantwortenden Desasters, auf eine schiefe Bahn geraten sein, die in das "Dritte Reich" einmündete. Vielfach seien neue fatale Denkkonzepte maßgeblich geworden: die Zuspitzung eines Radikalnationalismus, das Denken und Fühlen in Kategorien einer geballten deutschen Volksgemeinschaft, die Sehnsucht nach einem Führer und die auf Osteuropa gerichteten Raub- und Kolonisationspläne.
Traditionelle Eliten mit ostelbischen Großagrariern an der Spitze, zudem mit Militärs, Industriellen und Bürokraten sieht Wehler im Verbund mit dem - ebenfalls strikt negativ gesehenen - Bildungsbürgertum als Hauptverantwortliche solcher Trends in Gesellschaft und Politik mit langer Dauer. Vornehmlich diese Kreise hätten nach 1918 die revisionistische Politik getragen und die Republik bekämpft. Besonders moniert Wehler eine Orientierungslosigkeit gegenüber neuen, von links- wie rechtsradikaler Seite entworfenen Integrations- und Mobilisierungstheorien. Schon der Haß gegenüber Kommunisten sei destruktiv gewesen, fatal aber das Liebäugeln mit den Radikalnationalisten, die lenkbare Juniorpartner abgeben sollten. Neben solcherlei Neuansätzen verfolgt Wehler auch die traditionellen Komponenten der deutschen Gesellschaftsgeschichte, so die analog zu weltweiten Trends auch in Deutschland fortschreitenden Modernisierungen oder, am anderen Ende der Skala, die neue Virulenz von Klassengegensätzen.
Die folgende Kennzeichnung der Weimarer Jahre setzt vor allem das im Kontext des Ersten Weltkriegs Gesagte fort. Interessant ist dabei, wie Wehler den Kräften um Friedrich Ebert attestiert, daß ihr Handlungsspielraum beim Aufbau einer gleichzeitig revolutionären wie konservativen Republik gering gewesen sei. Diese Einschätzung führt bei korrespondierenden Hinweisen auf eine anhaltende Schwäche der bürgerlichen demokratischen Partner dazu, daß Reichstag, Parteien und deren demokratischen Kräften recht wenig Beachtung geschenkt wird. Des weiteren benennt Wehler die miserablen Rahmenbedingungen Weimars bei Ausbleiben einer längeren Konsolidierungsphase. Krieg, Niederlage, Demütigungen und Hoffnungslosigkeit seien in Deutschland der Hintergrund gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen gewesen, die den folgenden Hexenkessel politischer Theorien und Phobien ermöglicht hätten.
Wie stets gelten aber Entscheidungen und Handlungen deutscher gesellschaftlicher Kräfte als letztlich für den Verlauf der Geschichte maßgeblich. Ungeachtet einer haßgespeisten effizienten Politik von NSDAP und KPD, falle dem um Paul von Hindenburg gescharten traditionellen Machtkartell die Kernverantwortung zu. Getrieben von Klasseninteressen und Affinität zum Radikalnationalismus und bei erneut fataler Verkennung von Lage und eigenen Kräften hätte diese notorisch destruktive Gruppe 1930 bis 1932 durch ihr dilettantisches Herumwerkeln an autoritären Krisenlösungen die Republik zerstört und 1933 schließlich den keineswegs als nationalsozialistische "Machtergreifung" zu bezeichnenden Machttransfer an Hitler fabriziert.
Wehlers Hauptinteresse gilt dem "Dritten Reich" und besonders den Jahren des Zweiten Weltkriegs mit einer akribischen Einteilung der Gesellschaft in Täter, Mitverantwortliche und andere. Mit besonderem Nachdruck wird Hitler eine charismatische Führerposition zugewiesen, die dieser zunächst innerhalb der Partei, ab 1933 dann aufgrund einer verblüffend rasant vollzogenen nationalsozialistischen Revolution bei allen "Volksgenossen" innegehabt habe. Diese - nie als Diktatur gekennzeichnete - Herrschaft habe auf einem doppelten Fundament gefußt: einerseits auf Hitlers persönlichen, vielfach wie ein Springen von Erfolg zu Erfolg erscheinenden Leistungen, andererseits auf "den politischen Traditionen und mentalen Dispositionen, den Machtverhältnissen und Elitekoalitionen" in Deutschland.
Auch Hitler mit seinem Auftreten als vergötterter Messias, Volkstribun oder zweiter Bismarck sei "ein Produkt deutscher Geschichte". Demgegenüber gehe es nicht an, Terror und Propaganda, denen zweifelsfrei große Effizienz beigemessen werden müsse, das entscheidende Gewicht zuzuschreiben. Einmal im Besitz der Macht, sei Hitler aufgrund seiner richtungweisenden und radikalisierenden Vorgaben die erstaunlich lang anhaltende Mobilisierung einer hitlerhörigen Bevölkerung gelungen. Ohne charismatische Herrschaft seien Vorbereitung und Durchführung des totalitären Zweiten Weltkriegs mit seinen Menschheitsverbrechen, dem Genozid an den europäischen Juden und dem Vernichtungskrieg des Ostens, undenkbar gewesen. Das Ausmaß der schließlich voll auf Deutschland zurückfallenden Katastrophe wird dann durch Stichworte charakterisiert wie: Ende des Bismarck-Reiches, Amputation Deutschlands, Flucht und Vertreibung von 15 Millionen Menschen nach Westen, Teilung des Landes durch die Systemgrenze des Kalten Kriegs und Chaos zerbombter Städte.
In seinen Schlußbetrachtungen über das Zeitalter der Extreme wertet Wehler seine Beobachtungen über die verschiedenen Ebenen der gesellschaftlichen Entwicklungen systematisierend aus und fördert mancherlei Paradoxien zutage. Die Zerstörung der Weimarer Republik, Hitlers charismatische Herrschaft oder die präzedenzlosen Vernichtungspraktiken im Ostkrieg schienen zunächst den Radikalnationalismus irreversibel obsiegen zu lassen. 1945 folgten jedoch ein spätes Erwachen aus den nationalen Exzessen und ein "Ende der deutschen Hybris".
Im Bereich der Sozialmentalitäten verbindet Wehler seine Beobachtungen zum nochmaligen Aufbranden der Klassengegensätze in der Weimarer Republik mit denen zur nationalsozialistischen Zeit, in der die Durchführung einer Gesinnungsrevolution versucht worden sei. Das hierbei angesteuerte utopisch-sozialharmonische Ziel eines klassenlosen Staates arischer Volksgenossen, mit ausgegrenzten oder getöteten angeblichen Volksfeinden, sei zwar gescheitert. Doch gleichzeitig habe dieses Projekt einer egalitären Leistungsvolksgesellschaft auch dem Modell einer Klassengesellschaft aus dem 19. Jahrhundert den Boden entzogen. Im Anschluß an eine sozialpolitische Entnazifizierung nach 1945 habe der pluralistischen und meritokratischen Leistungsgesellschaft der Bundesrepublik schließlich eine von den Nationalsozialisten wider Willen vorbereitete Basis zur Verfügung gestanden.
Anders setzt Wehler demgegenüber die Akzente im Bereich der Wirtschaft, deren Aufbau ungeachtet der auch sie treffenden Zugriffe letztendlich in robuster Weise standhielt. Der Autor kennzeichnet das von ihm so genannte "System des deutschen Korporativismus" als phänomenales Erfolgsrezept. Private Initiative und Eigentumsordnung im Verbund mit Einflußmöglichkeiten von Wirtschaftsverbänden und staatlichen Instanzen hätten sich über die Zeiten hinweg als flexibel und effizient erwiesen. Infolgedessen sei schließlich eine nie zerstörte "Wachstumsmaschine" der erneut profitierenden Bundesrepublik weitergereicht worden. Unter dem Strich erscheint das "Dritte Reich" somit zwar nirgendwo als Kraft, die den Fortschritt betrieb, doch sorgte dessen Wirken in Verbindung mit dem gründlichen Scheitern dafür, daß es doch eine herausragende Schnittstelle in der Modernisierungsgeschichte darstellte.
Wehlers vierter Band der Gesellschaftsgeschichte wird auf noch mehr Lob als die ersten Bände stoßen, weil es dem Autor in beeindruckender Weise gelang, Grundlegendes und Erhellendes zur Ausgangsposition der Bundesrepublik herauszupräparieren, weil zudem eine Fortsetzung alter Diskussionen über die Struktur des Buches kaum noch weiter führt und weil schließlich auch das etwas grau Melierte des heute alles andere als jungen Ansatzes des Verfassers keine große Rolle spielen dürfte. Inhaltlich ist aber davon auszugehen, daß Teile des Buches Ausgangspunkte für heftige Diskussionen darstellen. Um deren Bandbreite anzudeuten, aber auch vor dem Hintergrund der langen Vorgeschichte des Buches sei ein Gedankenspiel gestattet. Wie würden wohl frühere Forscher, deren Leben und Werk durch jene Jahre geprägt war, die Wehler analysiert, auf die Studie reagieren? Karl Dietrich Erdmann hat vor 30 Jahren mit "Die Zeit der Weltkriege" die Jahre 1914 bis 1950 behandelt. Heute dürfte es ihm nicht schwerfallen, zuzugeben, daß sein ehemaliges Standardwerk in vielen Passagen überholt ist. Manche Akzentsetzungen Wehlers - so dessen rigide Orientierung an Fritz Fischer im Komplex Erster Weltkrieg oder Minimalisierung des Parts der Demokraten beim Scheitern Weimars - würden ihm aber wohl das Bewußtsein geben, daß sein Buch so ganz antiquiert denn doch nicht sei.
Der Marxist Wolfgang Abendroth dürfte sich darüber begeistert zeigen, wie schön durchgängig nun auch von bürgerlicher Seite das Wirken traditioneller Eliten schwarz in schwarz gesehen wird. Wehlers These von einem schnellen Zusammenbruch aller Sonderwegsstrukturen im Jahre 1945 würde er aber wohl nicht akzeptieren. Ernst Fraenkel würde sich über die Hochachtung Wehlers freuen, mit der seinem Buch über das "Dritte Reich" als einem Doppelstaat mit traditionellem Behördenstaat auf der einen, Maßnahmenstaat auf der anderen Seite begegnet wird. Verwunderung dürfte aber auslösen, daß bei Wehler dann der traditionelle Part des Staates weitgehend in der Versenkung verschwindet. Demgegenüber dürfte Andreas Hillgruber vor allem die Deutung mancher politischer Entscheidungen auf gesellschaftspolitischer, zum Beispiel "sozialimperialistischer" Basis weiterhin nicht akzeptieren. Amüsant erschienen ihm demgegenüber wohl mancherlei massive, allenfalls leicht bemäntelte Annäherungen Wehlers an eigene Forschungsergebnisse, punktuell etwa bei der Einschätzung Hitlers als Programmatiker oder insgesamt bei der Kennzeichnung des Zweiten Weltkriegs.
Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band : Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949. Verlag C. H. Beck, München 2003. 1173 Seiten, 49,90 [Euro].
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