Fakten. Im Verlauf von Jahrzehnten hat er immer wieder die Zahlen an Tier- und Pflanzenarten in bestimmten Gegenden erfaßt und daraus abgeleitet, welche Lebewesen häufiger, welche seltener wurden. Solche Langzeituntersuchungen sind beispielhaft. Mit ihnen kann man moderne Ökologie betreiben. Allein so - und nicht mit Spekulationen - lassen sich problematische Entwicklungen in unserer Umwelt nachweisen.
Viele Tiere, die vor unserem geistigen Auge in der Wildnis leben, sind dort, schreibt Reichholf, längst nicht mehr zu finden, sondern haben sich in die Städte zurückgezogen. Auf dem Land gibt es keinen Platz mehr für sie. Der Grund dafür: Die Landwirte halten viel zu viele Rinder. Diese Tiere brauchen große Mengen an Futter, mehr, als hierzulande mit vertretbarem Aufwand erzeugt werden kann. Das agrarisch genutzte Land wird stark gedüngt. Doch so läßt sich immer noch nicht genug Nahrung für Rinder produzieren. Man muß Futter nach Deutschland importieren, beispielsweise Soja aus Brasilien. Daher können beispielsweise im Landkreis Vechta viel mehr Haustiere leben als in der etwa gleich großen Serengeti, im Großwildparadies Afrikas. Am Beispiel der Serengeti zeigt Reichholf, wie viele Tiere sich normalerweise auf einer solchen Fläche ernähren. Im Raum Vechta wird eine übergroße Zahl an Nutztieren nur dank der Futterimporte satt.
Damit es genügend Soja auf den Weltmärkten gibt, werden Tropenwälder abgeholzt - und nicht etwa deswegen, weil man die hungernde Bevölkerung in der Dritten Welt ernähren will. Der Sojaanbau nach der Waldbeseitigung ist lukrativer. Wo man den Dschungel gerodet hat, können auch Rinder grasen. Die künstliche Pampa der Tropen ist zwar längst nicht so fruchtbar wie die traditionelle in Argentinien. Aber nun weiden Rinder in den Tropen Brasiliens, wo sich ehemals Wald ausdehnte. Wegen des Überangebotes an Rindfleisch können traditionelle Rindfleischerzeuger in Uruguay und Argentinien ihre Produkte auf den Weltmärkten nicht zu annehmbaren Bedingungen absetzen. Die Wirtschaftskrise in den südamerikanischen Ländern geht, wie Reichholf ausführt, unter anderem auf diesen Mißstand zurück.
In Deutschlands Rinderställen werden nicht nur gewaltige Mengen an Biomasse produziert. Es fallen auch riesige Mengen an Gülle an. Wo übermäßig viel Gülle ausgebracht wird, kann der Boden sie nicht aufnehmen. Abwasser aus der Tierproduktion läuft in die Gewässer, in Seen, Flüsse, schließlich in die Meere. Alles wird gedüngt. Pflanzen und Tiere, die in nährstoffreichen Gewässern oder auf magerem Grasland vorkommen, verschwinden; andere Kräuter, die schneller wachsen und dem Boden mehr Stickstoffverbindungen entziehen, wuchern in die Höhe. Da können die menschlichen Abwässer noch so gut geklärt werden: Die Gewässer verkommen dennoch zu Kloaken.
Für den Transport von Rinderfutter, Dünger, Fleisch und Gülle ist sehr viel Energie notwendig; erzeugt wird sie unter Freisetzung von Kohlendioxyd. Aber nicht nur dieses Gas, das für den Treibhauseffekt verantwortlich gemacht wird, gelangt dank Rinderhaltung reichlich in die Atmosphäre, wie Reichholf darlegt. Auch gewaltige Mengen an Methan werden freigesetzt. Dieses Gas produzieren die Bakterien im Verdauungssystem der Rinder - und in demjenigen der Termiten, die sich auf tropischen Rinderweiden vehement ausbreiten. Methan gilt ebenso wie Kohlendioxyd als wichtiges Treibhausgas.
Die Welt, so Reichholf, wäre leicht in Ordnung zu bringen, wenn weniger Rinder gehalten würden. Der Verfasser ist kein Vegetarier oder grundsätzlicher Gegner der Tierhaltung auf dem Bauernhof. Aber er fordert, Maß zu halten und durch Landnutzung nicht die Heimat zu zerstören. Er prangert an, daß mit Subventionen, also Elementen der Planwirtschaft, in den westlichen Industrieländern die Intensivierung der Rinderhaltung immer weiter forciert wurde. Zur Bekämpfung des Mißstandes fallen ihm aber leider auch nur dirigistische Maßnahmen ein: Man könnte die Transportkosten erhöhen. Dort, wo man Produkte am besten erzeugen kann, sollten sie auch hergestellt werden. Das ist richtig, aber wie soll man eine solche Forderung anders durchsetzen als mit Zwang?
Josef H. Reichholf hat ein interessantes Buch geschrieben und auf ein wichtiges Problem hingewiesen. Aber es ist ihm nicht gelungen, eine Brücke zwischen Landwirten und Naturschützern zu schlagen; im Gegenteil, er heizt einen Konflikt an, der derzeit an Brisanz gewinnt. Viele Bauern wissen sehr wohl, daß die Art und Weise ihrer Produktion Probleme mit sich bringt. Reichholf erwähnt nicht, daß die Landwirte bei der Bewältigung der Probleme von der Gesellschaft allein gelassen werden. Wir alle müßten uns angesprochen fühlen: Schließlich wird das übermäßig viele Rindfleisch nicht von den Bauern allein, sondern von der Gemeinschaft der Verbraucher verzehrt. Solange wir jeden Tag billiges Rindfleisch im Schnellimbiß oder in der Wurst verzehren wollen, dürfen wir uns nicht darüber beklagen, daß solches hergestellt wird. Das Naturparadies Serengeti darf nicht sterben, aber der Landkreis Vechta auch nicht. Das Gebiet im Westen Niedersachsens ist nämlich eine der wenigen besonders erfolgreichen Agrarregionen in Mitteleuropa. Die Landwirtschaft braucht eine Zukunft. Reichholfs Buch regt dazu an, nach Lösungen zu suchen, bietet aber zu wenige Ansätze, die Probleme der Landwirtschaft in den Griff zu bekommen.
Die viel zu große Zahl an Rindern, der viel zu große Anteil an Fleisch in unserer Nahrung, die viel zu intensive Produktion von Futtermitteln, die Masse an Gülle, der Ökokolonialismus mit der Ausbeutung der Regenwaldregionen für die Produktion von Futtermitteln sind Indizien für ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wir alle sollten uns dafür einsetzen, daß Rindfleisch keine billige Massenware mehr ist, sondern zum teuren Qualitätsprodukt wird. So wäre das Problem zu lösen. Aber wer kämpft schon für höhere Preise?
HANSJÖRG KÜSTER
Josef H. Reichholf: "Der Tanz um das goldene Kalb". Der Ökokolonialismus Europas. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2004. 217 S., 24 Abb., geb., 19,50 [Euro].
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