das ohnehin nur eine Mutationsvariante der ukrainischen Hafenstadt darstellt und wegen der überwiegend russischsprachigen Bewohner als Little Odessa berüchtigt ist.
In Yelena Akhtiorskayas Romandebüt erhält dieser an Sozialphobie leidende Sonderling seinen bühnenreifen Auftritt gleich auf den ersten Seiten, wo er nach vierzehn Stunden Flug auf einem Gangplatz neben dem WC aus einer nach Kerosin riechenden Maschine leichenblass ausgespuckt und von seiner hyperaktiven Mischpoke sogleich an den Strand verfrachtet wird. Dort entreißt ihm ein "Sturm mit slawischem Temperament" die Hose und kurzzeitig das Bewusstsein: Sonnenstich und Blitzschlag in einem.
Selten wurde in letzter Zeit über die Crux zwischen Bleiben und Gehen, Herkunft und Ankunft, über jenes seltsame Erfinden einer Vergangenheit, um in der Gegenwart zu überleben, mit so viel Verve, Humor und trauriger Ironie geschrieben wie von der 1985 in Odessa geborenen und seit 1992 in New York lebenden Autorin. Die zweite Generation der postsowjetischen, deutlich weiblich geprägten literarischen Diaspora, zu der hierzulande Namen wie Lena Gorelik, Marjana Gaponenko, Alina Bronsky oder Olga Grjasnowa zählen, hat sich auf die komödiantische Inszenierung der modernen Identitätskrise eingeschworen und Einwanderer, Aussiedler oder Auswanderungsverweigerer zu ihren oft skurrilen Helden erkoren.
Bei der Familie Nasmertow herrscht "Panik im Koffer" - so übrigens auch der deutlich schnittigere Titel des Romans im Original. Stets wird alles aus und umgepackt, nicht nur wenn es zum Strand geht. Neben Pasha zählen seine Eltern Esther und Robert, beide Mediziner, seine Schwester Marina und deren Mann, sowie Pashas kleine Nichte Frida zur Kernfamilie, an deren jüdischer Chuzpe und russischer Seele hierzulande problembeladene Begriffe wie Parallelgesellschaft oder Integration zerplatzen wie Seifenblasen.
Großvater Robert, in Russland eine Koryphäe der Neurochirurgie, behandelt in der neuen Welt nur noch selten und wenn, dann ausschließlich russische Patienten. Esther fädelt Perlen auf trendige Lampenschirme und konzentriert sich ansonsten auf den ernährungstechnisch bestmöglichen Erhalt der Familie, da Nahrungsmittel in Amerika zwar Kalorien, aber ansonsten, wie sie meint, wenig enthalten. Marina putzt bei nicht nur kinder-, sondern auch sonst sehr reichen orthodoxen Juden, die sie prompt feuern, nachdem sie den Kleinsten von einer unkoscheren Pizza abbeißen ließ.
Solche Geschichten sind nicht neu, schon weil sie seit mehr als hundert Jahren millionenfach passieren, doch Yelena Akhtiorskaya erzählt sie mit jüdischem Witz und in amerikanischem Tempo. Atemlos folgt das Buch in sich überschlagenden Satzkaskaden der Integrations- und Gefühlsodyssee seiner Odessiten, die bei allem Burlesken nicht als Karikaturen daherkommen. Man kann sie sich bestens in einer Filmkomödie vorstellen, in der der echte Stadtneurotiker eine glänzende Besetzung wäre.
Zweimal besucht Pasha in den neunziger Jahren die Seinen, und jedes Mal wird er von der ganzen russischsprachigen Exilgemeinde wie ein Halbgott empfangen, als ein großer Dichter, fast wie der Literaturnobelpreisträger Josef Brodsky, mit dem Pasha sich ohnehin gern vergleicht. In New York ist er ein Exot, der bei jeder Gelegenheit in stets bereitstehende Fettnäpfchen tritt, was man ihm großzügig nachsieht. Nachdem Esther Mitte der neunziger Jahre den Kampf gegen den Krebs verliert, hören Pashas Besuche auf, er existiert nur noch als Schattenwesen, das - so hofft man - drüben in der alten, der wahren Heimat den Garten und die Altstadtwohnung hütet, die den New Yorker Neubürgern in der scheinbar unbemerkt zum Zuhause werdenden Fremde als tröstende Fluchtpunkte dienen. Bis sich die inzwischen erwachsene Frida fünfzehn Jahre später mach Odessa aufmacht, um den legendären Onkel zu besuchen und nebenbei die komplexe Gemengelage ihres eigenen Es-Ich-Über-Ichs neu zu sortieren. Die Identitätssuche endet in einer stickigen Hinterhofwohnung, in der Pasha mit seiner neuen Muse haust, die als ephemeres, stets spärlich bekleidetes Wesen in zerschlissenen Nachthemden um den großen, armen Poeten herumtanzt, während Datsche und Stadtdomizil von Pashas geschiedener Frau einkassiert worden sind.
Die Datsche, Sinnbild und Sehnsuchtsort der russischen Intelligenzija, ist eine Müllhalde - Tschechows Kirschgarten lässt grüßen. Die Sache mit der kulturellen Verwurzelung erweist sich bei genauer Betrachtung vertrackter als vermutet. Der russische Dichterzampano hat nie in Russland gelebt, sondern stets in der Ukraine, wobei er keinesfalls ein Ukrainer, sondern ein Jude ist, der zum Christentum konvertierte und, wie sich herausstellt, gar nicht in Odessa, sondern in Lemberg geboren wurde. Auf den großen Auftritt folgt am Ende dieses kurzweiligen Debüts ein leiser nachdenklicher Abgang.
SABINE BERKING
Yelena Akhtiorskaya: "Der Sommer mit Pasha". Roman.
Aus dem Englischen von Eva Bonné. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2016. 380 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main