strategischen Rückzügen angesichts der Katastrophe. Doch es wurde aus anderen Gründen höchste Zeit für die Wiederveröffentlichung.
Daß bereits der Erstausgabe in Frankreich vor fast zweihundert Jahren ein sensationeller Erfolg beschieden war, zeugt von mehr als einem wachen Interesse der Leser am Überlebenskampf gegen die Naturgewalten und dem Wert der Schiffsreise als Metapher für das Leben. Vielmehr scheinen Epochen des Umbruchs ihre eigenen politischen Unsicherheiten immer konzentriert auf einem winzigen Punkt widergespiegelt sehen zu wollen - in jenem Fall taugte dazu ein zwanzig mal sieben Meter großes, keineswegs hochseetaugliches Floß, auf dem anfangs etwa hundertfünfzig Schiffbrüchige der vor der westafrikanischen Küste auf Grund gelaufenen Fregatte "Medusa" kauerten. Die zwölf Tage dauernde Irrfahrt über das Meer überlebten fünfzehn von ihnen - darunter der Wundarzt Jean-Baptiste Henri Savigny und der Geograph Alexandre Corréard, die beiden Verfasser des Berichts, der damals als ein Sinnbild für die verfahrene politische Situation während der zweiten Restauration unter König Ludwig XVIII. gelesen wurde. Denn nicht zuletzt die Auseinandersetzung an Bord zwischen einstigen Anhängern Napoleons in der Mannschaft und den Royalisten hatte zu dem Unglück, nein: Elend muß man sagen, geführt. Zugleich ist der Bericht ein überzeitliches Zeugnis dafür, wie zart jener Firnies der humanistischen Ideale ist, der das barbarische Wesen des Menschen übertüncht.
Die Fahrt mit dem Floß war eine mörderische Reise. Doch schon vor dem finalen Unglück der "Medusa" begleiteten schlechte Vorzeichen das Unternehmen. Ursprünglich war ein Geschwader aus vier Schiffen unterwegs gewesen, das den neuen französischen Gouverneur des Senegals, Julien-Désiré Schmaltz, und dessen Familie von der Atlantik-Insel Aix aus nach Afrika bringen sollte. Wegen Problemen mit dem Wind verloren die Fahrzeuge einander am fünften Tag in der Gegend von Kap Finisterre. Wenig später ging ein Schiffsjunge der "Medusa" über Bord und ward nicht mehr gesehen. Wegen der Nachlässigkeit des Bäckers brach auf dem Zwischendeck ein Feuer aus. Weil man einige Wolken für den Umriß von Kap Blanc gehalten hatte, stimmte die Positionsbestimmung nicht mehr. Und weil der Kapitän Hugues Duroy Vicomte de Chaumareys sich "mit sorgloser Gutmütigkeit" bei den Possen der Wendekreisfeiern vergnügte und die Mahnungen seiner Offiziere in den Wind schlug, lief das Schiff am 17. Juli 1816 auf die Arguin Sandbank auf, von der es nicht befreit werden konnte.
Es hat einen einfach Grund, weshalb Jean-Baptiste Henri Savigny und Alexandre Corréard auch diese Begebenheiten schildern: Sie haben keinen bloßen Reisebericht verfaßt; ihr Ziel ist die Demontage des Kapitäns, von dem sie sagen, er habe über keinerlei Qualifikation als seine Königstreue verfügt und zu keiner Zeit überzeugend das Kommando geführt, dafür nach dem Unglück das Schiff viel zu früh verlassen. Dann sei er mit einem der Rettungsboot davongesegelt und habe den Großteil seiner Mannschaft im Chaos zurückgelassen. Das Seil, mit dem man das Floß hinter einer Kette von Beibooten herzuziehen versprach, wurde gekappt.
Die Situation war hanebüchend. Noch aber wollten Savigny und Corréard den Glauben an die Menschlichkeit nicht preisgeben. "Es ist uns peinlich", schreiben sie, "solche Ereignisse zu erzählen und zu zeigen, wie das Gemüt des Menschen beim Anblick der Gefahr so sehr angegriffen werden kann, daß er selbst die Pflichten der Ehre aus den Augen verliert."
Auf dem Rettungsfloß herrschte währenddessen die pure Anarchie. Wegen mangelhafter Vorbereitungen fehlten Auftriebstonnen, so daß die Konstruktion siebzig Zentimeter unter der Meeresoberfläche lag, als erst fünfzig Männer auf das Floß gesprungen waren. Um Platz für weitere hundert zu schaffen, wurden nahezu sämtliche Lebensmittel ins Meer geworfen. Nur einige Weinfässer behielt man. Dennoch war an sitzen oder gar liegen nicht zu denken. Am Ende stand den Männern das Wasser bis zum Bauch. Jeder klammerte sich an jeden. Daß ein Teil der Mannschaft betrunken war, sorgte bald für die ersten Unfälle. Mehr schlecht als recht wurden Halteleinen verknotet; nach der ersten Nacht fehlten trotzdem zwanzig Personen. Einige der Männer halluzinierten, einer zerhaute mit einer Axt die Seile. Ohne recht zu wissen weshalb, begann mit Einbruch der Dunkelheit eine Gruppe von Unteroffizieren, Soldaten und Passagieren zu meutern. Mit Messern und Säbeln gingen sie auf die Vorgesetzten los. "Diejenigen unter ihnen, die keine Waffen hatten, bissen mit den Zähnen und nicht selten ziemlich derb", heißt es in der Niederschrift. Und: "Grauenvolle Nacht! Du bedeckest mit deinem schwarzen Schleier dieses grausame Gemetzel, das von der schrecklichsten Verzweiflung erzeugt wurde." Diesmal hatten sechzig Mann das Leben verloren. Und es sollte noch schlimmer kommen.
Am dritten Tag wurden die ersten Toten verspeist. Später würde man entscheiden, die Kranken über Bord zu werfen, um die Weinration für jene zu erhöhen, die sich die größeren Chancen ausrechneten, zu überleben. "Die Feder schlüpft uns aus der Hand", behaupten die Autoren, die ansonsten in der dritten Person von sich erzählen, "eine Todeskälte fährt uns durch alle Glieder." Dann richten sie sich unmittelbar an den Leser: "Wehret eurem Abscheu vor Menschen, die nur zu unglücklich sind, beklaget sie vielmehr und weiht ihrem grausamen Schicksal einige Tränen." Aus unschuldigen Opfern waren schuldige Täter geworden.
Im Wechsel zwischen trockener Dokumentation und dem Tonfall des Abenteuerromans, zwischen persönlicher Betroffenheit und Rechtfertigungsabsichten wechseln die Autoren bei der Schilderung des Martyriums auf hoher See. Keine Schauergeschichte von Edgar Allan Poe reicht an das heran, was auf dem Floß, das bald als "elende", bald als "unselige Maschine" bezeichnet wird, geschieht, und bisweilen kommt man nicht umhin, den Verfassern wie den Lesern von damals eine gewisse Lust am Nervenkitzel zu unterstellen. Zugleich muß man darüber staunen, wie der Zufall immer wieder geradezu mythenträchtig eingriff - mit den Fässern voller Wein in der endlosen Wüste des Meers etwa oder wenn überraschend ein gewaltiger Schwarm Fliegender Fische auf das Floß niederprasselt. Kein Wunder, daß diese Schilderung Weltliteratur werden konnte.
Berühmter freilich sollte das fünf auf sieben Meter große Monumentalgemälde "Das Floß der Medusa" werden, zu dem der Bericht den damals sechsundzwanzig Jahre alten Maler Théodore Géricault fast augenblicklich inspiriert hat. Mit ergreifendem Pathos stellte er jenen Moment dar, da einige der Schiffbrüchigen am Horizont als winzigen Punkt ein rettendes Segelschiff auszumachen glauben, während sich die anderen längst apathisch und erschöpft bis an die Grenze der Bewußtlosigkeit der vermeintlichen Ausweglosigkeit ihrer Situation hingegeben haben. Auch in der Literatur wurde das Thema immer wieder aufgenommen, etwa in Julian Barnes halbfiktionaler "Geschichte der Welt in zehneinhalb Kapiteln" oder von Peter Weiss in seiner "Ästhetik des Widerstands".
Zwei Aufsätze sind in dem neuen Buch dem Text von Jean-Baptiste Henri Savigny und Alexandre Corréard nachgestellt, im Umfang insgesamt kaum kürzer als deren Schilderung. Sie setzen Maßstäbe für die Ergänzung historischer Berichte. Der Kunsthistoriker Jörg Trempler geht der Rolle der Katastrophe innerhalb der europäischen Kulturgeschichte nach, erzählt mit detektivischer Genauigkeit die Entstehung des Gemäldes von Théodore Géricault und analysiert insbesondere dessen Bedeutung an der Schnittstelle von Genremotiv und Historiengemälde. Dabei entwickelt er über den Umweg der Nachrichtenfotografie eine einleuchtende, aber nicht sonderlich originelle These des "Bildwollens". Spannend wird seine Darstellung dort, wo er aus Siegfried Kracauers "Theorie des Films" jene Stelle zitiert, in der Kracauer ausgerechnet mit dem Mythos der Medusa die Kinoleinwand als Athenas blanken Schild interpretiert - als Möglichkeit, das Grauen ungestraft zu blicken.
Umfassend widmet sich Johannes Zeiliger in seinem Essay dem historischen Zusammenhang des Unglücks. Seine Ausführungen reichen von der Problematik des Seekriegs und der Bedeutung der damals modernsten französischen Fregatte, eben der "Méduse", über biographische Abrisse der wichtigsten Beteiligten und deren wechseltseitige Vorbehalte den anderen gegenüber bis zu einer sehr detaillierten Abhandlung über die "Menschenfresserei". Zeilinger folgt auch dem Leben der beiden Autoren nach der Rettung, Savignys erstem vertraulichen Protokoll für das Seefahrtministerium, das auf Umwegen bei einer Zeitung landet, und dem auch finanziell phänomenalen Erfolg des folgenden Buchs, der Corréard zur Gründung einer Buchhandlung samt Verlag verhalf - zugleich Treffpunkt der politischen Opposition. Savigny nutzte seine medizinischen Beobachtungen auf dem Floß für eine Dissertation.
Der Kapitän der Fregatte, Monsieur de Chaumarey, wurde am 3. März 1817 von einem Kriegsgericht zu drei Jahren Festunghaft verurteilt.
Jean-Baptiste Henri Savigny, Alexandre Corréard: "Der Schiffbruch der Fregatte Medusa". Mit einem Vorwort von Michel Tournier sowie Texten von Johannes Zeilinger und Jörg Trempler. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2005. 256 S., Abb., geb., 22,80 [Euro].
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