einzige Rohstoff. Ihm hat der Schweizer Schriftsteller Arno Camenisch sein neues Buch gewidmet: "Der letzte Schnee" ist von gestern und das Buch ein ziemlich geniales, jedenfalls gelungenes und hochliterarisches Porträt der Schweiz, ihrer Sprache und ihres Alltags.
Seine Protagonisten sind "der Georg" und "der Paul". Sie warten auf den ersten Schnee, um den Skilift in Betrieb zu nehmen. Es ist ein Bügellift - der erste der Welt war 1934 in Davos eröffnet worden, an Weihnachten. Sagt der Paul. Wogegen der Georg einwendet, im Schneckenhof hinten im Schwarzwald seien sie wohl etwas früher dran gewesen. Aber da "gibt es doch schon lange keinen Schnee mehr, warum die einen Skilift haben sollten, wüßte ich doch gerne". Ihr helvetisches Modell "ist immer noch die ehrlichste Form, den Berg hoch zu kommen", sagt der Paul. Der Georg rührt im Kaffee, der Zucker, der sich bekanntlich auflöst, wird zur Metapher für den Schnee, "und sollte ihn Petrus uns nicht entziehen, wird das noch lange so weitergehen, aber eben".
Der Skilift ist der Horizont dieser Welt und das "Hüttli", das neben ihm steht, ihr Nabel. Es geht rauf und runter, Sisyphus fährt Ski und nimmt den ehrlichsten Lift. Schluss ist um halb vier, "das war es doch gestern schon mal". Das Geschehen ist auf ein Minimum reduziert, Paul und Georg bleiben stets am Ort: vor, im, neben, hinter oder auch schon mal auf dem "Hüttli". Sie rauchen Zigaretten, essen ein "Kägifred", trinken gelegentlich einen Schnaps und reparieren den Lift. Das, was sie sich erzählen, sind Erinnerungen an früher und Geschichten vom Hörensagen - mit sehr viel Lebensweisheit.
Der Minimalismus der Handlung wird durch die Sprache kompensiert. Arno Camenisch spickt seine Literatur mit Mundart, wo es nur geht. Er konstruiert auf diese Weise ein Spannungsgefälle zwischen den Sprachebenen, das für sehr viel Komik sorgt. Doch es geht nicht nur um diese Effekte: Mit seinen helvetischen Sprachfetzen zeichnet Camenisch ein liebevolles Porträt der kauzigen Schweiz, in dem sie sich erkennt wie kaum je in einem Buch. Ähnliches hat nur der Kabarettist Emil erreicht. Bei seinen Landsleuten ist Arno Camenisch ein großer Star mit hohen Auflagen - ein Volksschriftsteller. In den höchsten Tönen hat Elke Heidenreich im "Literaturclub" des Schweizer Fernsehens von Arno Camenischs "Meisterwerk" geschwärmt: man kann es ganz offensichtlich auch deutschen Lesern wärmstens empfehlen und ohne dass sie permanent zum Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache greifen müssen, dem "Idiotikon".
Der Lift steht für den Leerlauf der Welt, Arno Camenischs Erzählung ist absurde Literatur. "Godo kommt nicht mehr, sagt der Georg und schaut in den Himmel", liest man auf der zweitletzten Seite. Dass der Klassiker Godot, auf den die beiden Protagonisten bei Samuel Beckett warten, in das Idiom der Schweizer Einzug gehalten hat, ist wenig wahrscheinlich. Die Anspielung ist wohl eher eine kühne, aber keineswegs vermessene Standortbestimmung des Verfassers. Die Konzentration auf das Lokale, die Reduktion auf das scheinbar Banale vermittelt der Handlung eine universelle Dimension. Nur die Beschleunigung und spektakuläre Dramatisierung zum Schluss - mit einem Selbstmord - nimmt dem Buch etwas von seiner Genialität.
Aber ein guter Schriftsteller kann ja nicht einfach den Skilift abstellen. Und "der Georg" wartet auch keineswegs auf Godo. Sein verzweifelter Blick in den Himmel sucht Petrus und fleht um den ausbleibenden Schnee. Denn ist der Winter erst einmal abgeschafft, weiß Gott "was der Herrgott im Himmel" dann in seinem Drehbuch vorgesehen hat: "Vermutlich lässt er die Berge ins Tal stürzen und macht uns alle zu Staub." Aber dazu braucht es in der Schweiz keine Steinlawinen. Und gegen die Klimakatastrophe wehrt man sich hier mit Schneekanonen.
JÜRG ALTWEGG
Arno Camenisch:
"Der letzte Schnee".
Engeler Verlag. Schupfart 2018. 102 S., geb., 19,- [Euro]
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