siebziger Jahren mit diesem Wechsel verbunden ist. "Theorie", die unstete, illegitime Schwester der akademischen "Philosophie", findet ihr adäquates grafisches Symbol in der Schräge.
Philipp Felschs "Der lange Sommer der Theorie", in Leipzig für den Sachbuchpreis nominiert, ist vor allem eine Biographie des Merve-Verlags und seines vor kurzem gestorbenen Mitgründers Peter Gente, der mit seinen brüchigen, kleinformatigen Büchern Autoren wie Althusser, Foucault, Deleuze oder Lyotard in Deutschland bekannt gemacht hat. Das Buch kann als Komplementärwerk zu Ulrich Raulffs im vergangenen Herbst erschienenen Erinnerungen "Wiedersehen mit den Siebzigern" gelesen werden. Wo der frühe Foucault-Übersetzer die "wilden Jahre des Lesens" aus subjektiver Perspektive erzählte, schreibt der gut zwanzig Jahre jüngere Berliner Wissenschaftshistoriker Felsch aus archivgesättigter Distanz.
Peter Gente kommt um 1960 als Student nach West-Berlin und hat sein "intellektuelles Erweckungserlebnis" während eines Ferienjobs bei Siemens. Von einem Kommilitonen am Fließband hört er zum ersten Mal von Adornos Aufzeichnungsbuch "Minima Moralia", das er dann fünf Jahre lang unentwegt bei sich trägt wie frühere Lesergenerationen einen Gedichtband von Georg Trakl oder Stefan George. In den Jahren der Studentenbewegung fühlt sich Gente weder zum Aktivisten noch zum Autor berufen; er ist aber, wie Felsch schreibt, ein besessener Leser, der schon früh, Mitte der sechziger Jahre, zeitgenössische französische Theoretiker entdeckt und sie ins Deutsche übersetzt.
Für die Ausrichtung des Merve-Verlags, benannt nach dem Vornamen von Gentes damaliger Ehefrau, spielen die "Minima Moralia" dann eine entscheidende Rolle. Denn das Verständnis von "Theorie", das Gente von seinem Lehrer an der Freien Universität, Jacob Taubes, übernimmt, ist nicht in erster Linie an spezifische Erkenntnispositionen gebunden, sondern an Formate. Die Merve-Bücher sollen überall gelesen werden können, in der U-Bahn, auf Reisen, im Park oder Schwimmbad; sie sind "gegen die Seinsfrage, gegen das Curriculum und gegen das systematische Philosophieren" gerichtet, und das heißt zuallererst: Sie müssen aus kurzen Texten bestehen, aus Fragmenten, Aufsätzen, Gesprächen, Best-of-Versionen.
Adornos Schreibprogramm im "Essay als Form" von 1959 - "Er fängt nicht mit Adam und Eva an, sondern mit dem, worüber er reden will" - wird auch zum Credo des Merve-Verlags. Das Genre der "Theorie" ist also von Beginn an eher der Literatur verwandt als der Philosophie, und ihre bedeutendsten Autoren, von Blanchot bis Roland Barthes, haben sich mit ihrer Schreibweise immer an der Grenze zum Literarischen bewegt.
Philipp Felschs Chronologie legt ihren Fokus vor allem auf das Jahr 1977, das durch die Ereignisse von Mogadischu und Stammheim nicht nur eine politische Zäsur in Deutschland markierte, sondern auch eine der Ausrichtung von Theorie. Als der Merve-Verlag 1970 anfing, war theoretische Arbeit gleichbedeutend mit einer dialektisch geschulten Kritik der Verhältnisse, getreu jenem Diktum der Studentenbewegung, dass "Revolution" vor allem "Textarbeit" heiße. Im Lauf der siebziger Jahre (und spätestens im "Deutschen Herbst") bricht die Allianz von Politik und Theorie zusammen. Felsch nennt diesen Einschnitt, die Ablösung von marxistischen und der kritischen Theorie verpflichteten Positionen durch poststrukturalistische, ein "Überschreiten der intellektuellen Wasserscheide", und es ist vielleicht das größte Verdienst des Buchs, dieses Überschreiten noch einmal Fußspur für Fußspur nachzuzeichnen.
Ermattet von den großen Erzählungen des Klassenkampfs, voller Zweifel an der vermeintlich souveränen Position des Intellektuellen, der die Begriffe und gesellschaftlichen Widersprüche universal zu ordnen vermag, entfalten die unscheinbareren, amorpheren Methoden der französischen Autoren für das Merve-Kollektiv umso stärkere Kraft. Nicht zufällig ist es die Vorsilbe "Mikro", die im Titel der nun erscheinenden, bis heute berühmtesten Bände auftaucht: Foucaults "Mikrophysik der Macht" oder die "Mikro-Politik des Wunsches" von Deleuze und Guattari.
Emblematisch für diesen Bruch steht ein Besuch der Merve-Leute in Michel Foucaults Pariser Wohnung, mitten im Oktober 1977. Der Gastgeber, nach Adorno Peter Gentes zweite "innere Instanz", zerlegt die Strategie der RAF mit schneidenden Argumenten, beschreibt die Idee, durch brutale Anschläge die Fratze des Polizeistaats hinter der demokratischen Fassade hervorzukitzeln, als hermeneutisches Missverständnis, getragen von einem überholten Begriff vom modernen Staat, dessen subtile Kontrollmechanismen längst eine andere Kritik, einen anderen Widerstand erfordern würden. Allein die Beschreibung dieser Szene, die sich Felsch bei einem seiner Gespräche mit Peter Gente erzählen ließ, lohnt die Lektüre des Buchs.
Am "Grabmal des Intellektuellen", wie es Jean-François Lyotard kurz darauf formuliert, entstehen neue, eher affirmative Perspektiven des Denkens, deren Losungsworte "Vermischung" und "Intensität" heißen. Ihr Referent ist das von Frankreich aus neu entdeckte Werk Friedrich Nietzsches, und wieder zeigt sich, wie eng in der Geschichte der Theorie Positionen und Formate zusammenhängen. Denn gerade Nietzsches fragmentarische Schreibweise macht ihn zum nachträglich installierten Ahnherrn des Genres. Merve wird im Umbruchsjahr 1977 konsequenterweise noch kleiner, die von Gente und seiner neuen Lebensgefährtin Heidi Paris herausgegebenen Bände schrumpfen vom DIN-A5-Format auf das bis heute gültige DIN B6. Ihr bisheriger Untertitel, "Internationale Marxistische Diskussion", verschwindet.
Die ursprüngliche Kongruenz von Politik und Theorie zerfällt nun endgültig. Wo linke Utopien Ende der siebziger Jahre in der eher beschaulichen Ökologie- und Umweltbewegung aufgehen, sucht der Merve-Verlag seine Konturen in einem neuen Milieu zu schärfen, in dem er laut Felsch bis heute seine Heimat gefunden hat: der Sphäre der Kunst. Zum Verhältnis von Theorie und Pop sagt er seltsamerweise so gut wie nichts.
Zwei Begegnungen spielen für den langjährigen Kunst-Ignoranten Gente dabei eine entscheidende Rolle: einmal mit dem Schweizer Kurator Harald Szeemann, dessen Schriften als Merve-Band Nr. 100 erscheinen, und einmal mit Martin Kippenberger, der ein Magazin zum zehnten Verlagsjubiläum zusammenstellt und einen Band namens "Frauen" herausgibt, der sowohl programmatisch als auch politisch die neue Zeit verkörpert. Er enthält nur Bilder und keine Worte und wird von den traditionell belieferten alternativen Buchläden als Zeugnis des Chauvinismus zurückgeschickt. Um 1980 ist bei Merve, wie Philipp Felsch es ausdrückt, die "Transsubstantiation von Theorie in Kunst" erfolgt.
"Der lange Sommer der Theorie" ist eine anregende Mentalitätsgeschichte des Denkens, die nicht zuletzt der Frage nachgeht, ob das insuläre West-Berlin zwischen 1960 und 1990 als "idealer Theorie-Standort" zu begreifen sei. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Lage und Denkstil, zwischen urbanen und intellektuellen Dispositionen? Jacob Taubes, dieser so einflussreiche wie werklos gebliebene Lehrer (außer seiner Dissertation wurde zu Lebzeiten kein Buch von ihm veröffentlicht), bot 1982 ein Seminar zum "Ende der Geschichte" an, in dem er West-Berlin als den beispielhaften Ort eines posthistorischen, radikalen Ästhetizismus beschrieb. Sieben Jahre später erfährt das vermeintliche Ende eine unverhoffte Coda, und es ist kein Wunder, dass Philipp Felschs Buch mit diesem Datum abbricht (oder vielmehr ein wenig unmotiviert ausläuft), mit einem recht lieblosen Abschnitt über den ersten Niklas-Luhmann-Band bei Merve.
Nach 1989 hat es - gemessen an der Intensität, mit der Autoren wie Foucault, Deleuze oder Luhmann ihre Leser beeindruckten - keine entscheidenden Theorie-Ereignisse mehr gegeben. Poststrukturalismus und Systemtheorie erscheinen als die bislang letzten essentiellen Strömungen, und die Absenz vergleichbar elektrisierender Konzepte heute scheint das Bedürfnis nach Historisierung umso stärker hervorzubringen. Davon geben die Bücher von Ulrich Raulff und Philipp Felsch Zeugnis.
Aber woran liegt es, dass die Epoche der Theorie seit 25 Jahren abgebrochen ist - aktuelle Anknüpfungsversuche wie der "Neue Realismus" tragen eher zur Bestätigung diese These bei? Vielleicht liegt ein Grund in der Einebnung von Feldern der Rivalität. Wenn die Postmoderne im Sinne Lyotards den "großen Erzählungen" ein Ende setzte und ihnen das Heterogene, Plurale entgegenhielt, dann bezog sich diese Antithese zumindest noch auf eine als tonangebend empfundene Gegenseite, so wie es weltpolitisch eine Konkurrenz zweier Ideologien gab. Seit 1989 entfällt diese politische Konkurrenz und mit ihr auch die philosophisch-theoretische. Denn der gegenwärtige Kapitalismus hat alle Facetten des Handelns, Denkens und Fühlens im Namen von Freiheit und Pluralität durchdrungen. Theorie, die sich von jeher in den Falten des Gegebenen als Widerhaken eingrub, gleitet an dieser glatten Oberfläche ab. Sie muss erst wieder den Ort ausmachen, von dem aus sie operieren kann.
ANDREAS BERNARD
Philipp Felsch: "Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960 bis 1990". C. H. Beck, 327 Seiten, 24,95 Euro
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