kleine Rest des Todes".
Lenze erzählt die Geschichte vom seelischen und körperlichen Zugrundegehen einer komplexen, fragilen Persönlichkeit. Ariane, deren philosophische Doktorarbeit über die Negation bei Hegel, Adorno und im Zen-Buddhismus ins Stocken geraten ist, die halb zur persönlichen Sinnsuche, halb zur wissenschaftlichen Recherche einige Monate in einem Zen-Kloster in den indischen Palanibergen zugebracht hat, die in bloß unverbindliche oder aber kaputte Liebesbeziehungen verstrickt ist - dieser Ariane zerbricht durch den plötzlichen Tod ihres Vaters bei einem Flugzeugunglück vollends der Boden unter den Füßen. Der unerwartete Verlust des geliebten, nahen Menschen und der Verlust des eigenen Selbst gehen miteinander einher: Das ohnehin beschädigte Leben der jungen Frau, der mit ihrem Vater der letzte Halt abhandenkommt, schildert der Roman in seiner ganzen Destruktivität, schwankend zwischen trauriger Nostalgie, suizidaler Depression und der quälerischen Frage nach dem Warum. Am Ende versucht sich Ariane durch einen therapeutischen Trip zur Unfallstelle selbst zu heilen, aber der Regen legt sich "wie eine Bildstörung" auf die Wiese. Kurz darauf bricht die Erzählung unvermittelt ab.
Es geht also um Tod und Trauer - und diese widersetzen sich jeder narrativen Logik: "Ja, wenn alles sich umstülpt im Leben, und ich finde, der Tod tut das, nur dass man ihn einfügt ins Leben wie einen Satzteil, als gehörte er zu einer ganzen Geschichte, aber das tut er nicht." Angesichts dieser Unverfügbarkeit weist der Roman denn auch nur ein rudimentäres Handlungsgerüst auf. Stattdessen wird die Trauer, und somit auch das Erzählen, vielmehr durch eine punktuelle Zeit- und Wirklichkeitserfahrung bestimmt - "wie jeder Moment wartet und lauscht, sich nicht hingibt an den nächsten, wie früher einmal".
Diese momenthaften Wahrnehmungszustände der hypersensitiven Erzählerin bildet der Text in unterschiedlichen Stilformen ab. Zumeist in einer beobachtungsscharfen, von allem Pathos befreiten Prosa, zuweilen mit einer Empfindungsintensität, wie man sie aus Gedichten Annette von Droste-Hülshoffs kennt ("es duftet nach frischem Gras, und ich lege mich schließlich hinein und fühle die Kühle in mich kriechen"), gelegentlich auch in Sprachbildern, die an die entgrenzte Semantik des Expressionismus erinnern ("der alte, in Brombeerhecken ertrinkende Bahnhof", "Teeblätter wachsen im Wasser"). Für sich genommen klingt nichts von dem, was es in diesem Roman zu hören gibt, also wirklich neu. Aber durch das gleitende In- und Nebeneinander der unterschiedlichen Tonfälle lässt der Roman ein eigentümlich dunkles Register erklingen, das den Leser bannt - und zugleich beklemmt.
Die Stärke des Romans zeigt sich darin, dass er sich dem Klischee, dem Schema erfolgreich entzieht. Wo andere Geschichten über den Tod und das Sterben mal in hermetische Tiefe, mal in lebenshelferischen Kitsch verfallen, beschreibt und ergründet Lenzes Erzählerin das Hier und Jetzt ihres Denkens und Fühlens. Wo andere Autoren trivialpsychologisch behaupten, das Erzählen könne die Trauer überwinden, richtet Lenze den Fokus auf den einzelnen, schmerzenden Augenblick, um ihn irgendwie zu begreifen - ist sich dabei aber nüchtern bewusst, dass auch dies keine Rettung bringen kann.
Wer in einigen Jahren auf das erstaunliche Spektrum an Todes-, Sterbe- und Trauergeschichten im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert zurückblicken wird, wird nicht nur Daniel Kehlmanns "Ruhm" (und darin die Erzählung "Rosalie geht sterben"), Judith Hermanns "Alice" oder auch Christoph Schlingensiefs Krebstagebuch "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!" zur Kenntnis nehmen müssen, sondern auch Ulla Lenzes "Der kleine Rest des Todes". Und mit ihm eine ganz eigene Stimme im vielköpfigen Totengesang der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
KAI SINA.
Ulla Lenze: "Der kleine Rest des Todes". Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2012. 160 S., geb., 18,90 [Euro].
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