Regelmäßigkeit funkelnde kleine Texte vorlegt, glücklicherweise nicht abschrecken lassen. Denn sie gebietet über etwas, das den meisten Surfautoren abgeht: über eine gleichermaßen lässige wie raffinierte Sprache. Kirsty Gunn kann vom Meer erzählen wie von einem Ereignis. Es glitzert und leuchtet in ihren Sätzen, durchsichtig wie Glas, scharf an den Rändern. Irgendwann glaubt man fast selbst das Gurgeln und Tosen zu hören, das Salz auf den Lippen zu schmecken, und es grenzt an ein Wunder, daß Bettina Abarbanell dafür tatsächlich eine Entsprechung im Deutschen gefunden hat.
Kirsty Gunns mittlerweile fünftes Buch "Der Junge und das Meer" ist kein Roman, wahrscheinlich nicht einmal das, was man früher eine Novelle genannt hätte. Es ist nur eine Erzählung mit einem reichlich prätentiösen Titel, eine story, in mehreren, parallel montierten Stimmen erzählt. Die Geschichte eines Tages am Meer. Irgendwo, in Kalifornien vielleicht, in Australien oder in Neuseeland. Der weite, schattenlose Strand, ein Pinienwäldchen, das Wasser. Frisch gewachste Surfbretter, ein paar Freunde, Jungen und Mädchen, die sich schon ewig kennen, deren Eltern seit Jahren auf dieser Sommerinsel Ferien machen. Alex und Ward und Beth und noch ein paar andere. Und das neue Mädchen, Alison.
Sie lachen, planen eine Party, albern im seichten Wasser herum und beobachten aus den Augenwinkeln die Brandung, halten Ausschau nach der einen, der perfekten Welle. Und nach einer Weile entdeckt Ward sie tatsächlich, schon früh am Vormittag, lange ehe sie sich aus dem Ozean erhebt. Schnell könnte diese Geschichte, die flirrend und leicht beginnt wie warme Luft, in der Hitze des Tages verglühen. Aber Kirsty Gunn nutzt die träumerische Szenerie für etwas Unerwartetes. Feinfühlig und sparsam entwirft sie ein Porträt eines der Jungen, Ward, der sich selbst zwischen seinen besten Freunden merkwürdig einsam fühlt. Der häufig viel lieber allein wäre, der nie seine Beklommenheit los wird und fasziniert seine Kumpane beobachtet, die sich nicht immerfort Gedanken machen. Die munter drauflosschwatzen, mit den Freunden herumbalgen, mit den Mädchen flirten, als sei das alles gar nicht schwer. Ward bewundert und beneidet deren erlösende Gedankenlosigkeit, ihre hartnäckige Fröhlichkeit, die ihm partout fremd bleibt.
Denn Ward ist ein enthusiastischer Surfer, aber vor allem ist er fünfzehn. Zu jung, um über seinen dominanten Vater zu spotten, über dessen lächerliche Shorts und die ewig gleiche Masche mit den Mädchen. Doch Ward ist längst alt genug, um genau zu registrieren, wie verstörend es mitunter ist, ganz dicht neben einem Mädchen zu stehen, fast ihren Arm berühren zu können, aber wie gelähmt zu sein von dieser Nähe. Nie findet Ward im passenden Moment die richtigen Worte, und schließlich flieht er geradezu mit seinem Brett ins Meer, das ihm vertrauter ist als das Durcheinander in seinem Kopf. Und dort draußen findet er schließlich die Welle, die ihn zwingt, zu wachsen, ja, erwachsen zu werden.
Ganz am Ende, wenn Ward seine Prüfung bestanden hat, wenn er getan hat, wofür ihn die anderen bewundern werden - da wird der Text sentimental. Und vorhersehbar. Bekommt eine banale Schlußsequenz beinahe wie ein Teenie-Film, in dem die Kamera auf den Sonnenuntergang schwenkt, ehe sie abblendet. Aber auf dieses Ende kommt es nicht an. Oder, genauer: Es kann dem Rest des Buches nichts anhaben. Denn Kirsty Gunns Ton, in dem sich Poesie und Präzision verbinden, geht einem lange nicht aus dem Kopf.
Kirsty Gunn: "Der Junge und das Meer". Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Abarbanell. Marebuchverlag, Hamburg 2005. 140 S., geb., 15,- [Euro].
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