eine komplexe literarische Ordnung. Die nachgelassenen Erzählungen bestätigen abermals den außerordentlichen Rang dieses OEuvres, das Felix Philipp Ingold "zu den größten Leistungen der europäischen Nachkriegsliteratur" gerechnet hat.
Vorherrschendes Thema der Erzählungen sind letzte Tage und der Tod. Bei den Figuren handelt es sich immer wieder um Künstler oder Schriftsteller, "Heimatlose" wie der Autor selbst. Ihre Biographien sind beschädigt von Diktatur und Gewalt. In der Titelerzählung bilden Leben und Sterben Ödön von Horváths in Paris den realen Hintergrund einer biographischen Phantasie über Egon von Németh, einen Schriftsteller und Kosmopoliten aus Fiume. In "Jurij Golez" erzählt Kis ebenfalls eine wahre Geschichte: Ihr Protagonist, ein Pariser Bekannter des Autors von ukrainisch-jüdischer Herkunft und Überlebender von Auschwitz, nimmt sich wenige Tage nach dem Tod der Frau, mit der er dreiunddreißig Jahre verheiratet war, das Leben.
Eine "nichtfiktionale Erzählung", wie Kis dieses Genre nennt, ist auch "Das Lautenspiel und die Narben". Der Autor erinnert sich darin an ein altes russisches Emigrantenpaar im Belgrad der fünfziger Jahre, das ihm als Student eine Unterkunft bot. Jahre später, bei Gelegenheit eines Moskau-Besuchs, soll der Erzähler auf Wunsch der Frau deren Schwester aufsuchen. Doch die Schwester und ihre beste Freundin sind seit langem tot. Eine andere Freundin ist noch am Leben, doch sie entläßt den Besucher mit den Worten: "Ich bereite mich auf den Tod vor. Für mich gibt es keine Begegnungen mehr auf dieser Welt . . . Wir haben gelebt, als wären wir tot. Leben Sie wohl." Zurück in Belgrad, zieht er es vor, der Alten sein Erlebnis zu verschweigen.
Vom Autor eines titokritischen Sonetts ist in der Erzählung "Der Dichter" die Rede. In langer Haft arbeitet er sein Werk in eine Huldigung um und wird schließlich aus dem Gefängnis entlassen. Der Dichter geht nach Hause, nimmt ein Bad und hängt sich auf. "Die Schuld" schließlich handelt vom Entschluß eines Schriftstellers - Kis hat dabei auf die Biographie von Ivo Andric zurückgegriffen -, auf dem Sterbebett all seinen ideellen Gläubigern die Schulden zurückzuzahlen. So erhält etwa "Tugomir Alaupovic, der über meine Seele und meinen Körper wachte wie über seinen eigenen", zwei Kronen. Aus der Aufzählung der Gönner und ihrer Wohltaten entsteht wie von selbst eine Lebenserzählung des Schuldners.
Kis' Methode sei die "radikale fiktionale Reduktion", schreibt Mirjana Miócinovic in ihren höchst aufschlußreichen Anmerkungen. Kis verzichtet beinahe vollständig auf die Fabrikation von Illusionen. Und das wenige, das sich bei ihm an Handlung ereignet, bietet er auf eine so beiläufige Weise dar, daß sich, unbehelligt von der Fabel, das Leben der Details entfalten kann. Sie sind es, die in diesen Totengeschichten Trost spenden, indem sie gelebte Individualität aufbewahren. Etwa die Geste des verstorbenen Malers Leonid Sejka, als der dem Autor die seltsame Geschichte vom Marathonläufer zum ersten Mal erzählte. "Während er drei Finger seiner Rechten zusammendrückte", heißt es da, "suchte er nach dem richtigen Wort und Ausdruck, als prüfte er mit den Fingerkuppen die Feinheit eines Pigments oder die Dicke der Farbschicht; seine Linke blieb derweil reglos, seltsam reglos, wie starr: sie hielt die herunterbrennende Zigarette, wobei die Asche bis zuletzt senkrecht und ganz blieb."
Danilo Kis: "Der Heimatlose". Erzählungen. Aus dem Serbokroatischen übersetzt von Ilma Rakusa. Carl Hanser Verlag, München 1996. 136 S., br., 28,- DM.
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