alles Vergleichbare in den Schatten stellt; mehr als neunzigtausend handgeschriebene Seiten umfassen die 222 Bände. Die Verfasserin, die außer drei Gedichtbänden auch eine Chronik der Heimat sowie ein Montafoner Heimatstück in sechs Bildern veröffentlicht hat, betrachtete dieses Monsterdiarium als ihr Hauptwerk.
Dessen Erzählerin und Heldin heißt "Grete" und unterscheidet sich von der Verfasserin allenfalls durch die Retuschen einer Selbststilisierung. Karl Wolfskehl will "ihr dichterhaftes Wesen" diesen Tagebüchern abgelauscht haben - ein Wesen, das allerdings am besten zu erkennen vermöge, "wer in oft stundenlangem Lauschen von ihr selber daraus hat hören dürfen". Dem Leser dieser Aufzeichnungen fällt die Vorstellung schwer, daß dieses Lob ironiefrei gewesen sein soll. Denn wenn es etwas gibt, das die Lektüre dieser Tagebücher an Bedenklichkeit übertrifft, dann ist es die Vorstellung, die Verfasserin stundenlang daraus vorlesen zu hören.
Man erwäge nur, in welche Welt wir lesend eintreten könnten: in die Welt der Schwabinger Künstlerpriester und poetischen Heilsverkünder, der Kabaretts und Kostümfeste, der neuerwachten Skandinavien-Begeisterung, der Naturkulte, Freikörperkultur und der sexuellen Emanzipation, des Frühlingserwachens der deutschen und der skandinavischen Moderne. Die Edition wird mit Namenslisten angekündigt, die sich wie ein Who's who einer Epoche lesen. Die Brüder Mann und Max Reinhardt, der Simplicissimus-Kreis und Bjönson, Hermann Hesse und Fridtjof Nansen, Kubion und Zeppelin - sie alle werden erwähnt, ihnen allen ist Grete Gulbransson begegnet. Mit einer Einschränkung: In der Perspektive ihrer Darstellung sind alle Berühmtheiten ihr begegnet. Denn nicht nur die Hauptfigur des Tagebuchs heißt "Grete", sondern auch das Zentrum seiner deshalb so frappierend kleinen Welt, dieser Miniaturausgabe der Münchner Moderne.
Wenn dieser Band als kulturgeschichtliches Bilderbuch eine Fundgrube und eine Augenlust ist, dann vor allem dank der verschwenderischen Illustrationen. Schon flüchtige Lektüre läßt erkennen, daß die Bilder für das entschädigen müssen, was der Text nicht hergibt. Einmal besucht Grete Alfred Kubin und läßt sich von ihm seine Zeichnungen zeigen - welch beneidenswerte Situation, wie gern möchten wir ihr über die Schulter blicken! Was aber läßt sie uns sehen? Nichts; "einen tiefen Eindruck" hätten "seine Sachen" ihr gemacht: "Manche schütteln mich förmlich." Das war's; und dann muß sie auch schon gleich zur Bahn. Hätte die Herausgeberin hier nicht zwei phantastische Federzeichnungen Kubins beigefügt, wir hätten von der Szene nichts gesehen als die sich förmlich schüttelnde Grete, in Großaufnahme. "Du gehörst", notiert sie, "zu jenen schamlosen Frauen wie sie in der Romantic lebten, die immer alles sagen, was sie fühlen." Das ist die erste Hälfte einer zutreffenden Beobachtung, deren Fortsetzung lauten müßte, daß diese Gefühle denen der Romantikerinnen vor allem an Ausdrucksintensität vergleichbar sind.
Ihre immer ungenierte, manchmal frische, zumeist besinnungslose Redseligkeit verdirbt ihr selbst die großen Nummern. Wenn Graf Zeppelin im April 1909 mit seinem Luftschiff auf der Theresienwiese landen will, dann ist das eine Sensation für München und für dieses Tagebuch. Was für ein Spektakel - und Grete mittendrin! Entsprechend neugierig begibt man sich an die Lektüre der Schilderung, an deren Beginn der verheißungsvolle Ausruf steht: "da gibt's kein Halten!" Ach, nein, das gibt es nicht; denn kein Ereignis dieses Tages kann so bedeutend sein wie die Gemütsregungen Gretes, die ein vier Seiten langes Trommelfeuer von Selbstbeobachtungen eröffnet, hinter dessen Kugelhagel in der Ferne der Zeppelin zu erahnen ist.
Immerhin nimmt sie mit flüchtiger Begeisterung zu Kenntnis, "wie dies weisseidne Riesenwurst zielbewußt durch die Luft steuert"; alles Weitere aber dient einzig dem Ausdruck ihrer unermeßlichen Enttäuschung darüber, daß die Wurst wegen widriger Winde weiterfliegen muß. Nicht genugtun kann sie mit Schilderungen der Angst, die sie um das Luftschiff ausgestanden hat, kein Wort ist stark genug: "todeselend" sitzt sie daheim, "nass von wütendem Schweiss", "verzweifelt und rasend" reist sie dem Luftschiff nach, und zwischen diesen Exaltationen gerät sie "in eine Art besinnungslosen Fieberschlaf", aus dem sie zu einer Raserei erwacht. Die Ursache dieser Schrecken ist, wie gesagt, die verhinderte Landung des Zeppelins, von dem man jetzt weiß, daß Grete Gulbransson Höllenqualen im ihn ausstand.
Aber Grete wäre nicht Grete, wenn sie solche Grenzerfahrungen nicht zum Gedicht formen würde. Umgehend schreibt sie also Verse nicht bloß auf, sondern auch gleich brieflich an den Grafen Zeppelin; ihm schildert sie ihre "Todesangst auf Deiner Spur / Wo bis du nur? Wo bist du nur?" Die Antwort kennt nur der Wind; und fast hätte man selber darauf kommen können, daß am Ende dieses Tages der Entschluß gefaßt wird, den 1. April fortan zum Feiertag zu erheben.
Keine Gefühlsaufwallung aber kann so leidenschaftlich sein, daß ihr resoluter Pragmatismus dabei zu kurz käme. Eines Sommertages wird Grete von Olaf an einen versteckten See geführt, und "wir schmeissen uns auf den weichen Waldboden". Dann weiß sie nicht mehr als "Olaf Olaf Olaf Olaf Olaf -", hat schließlich einen "gesunden Hunger" und ist "todschläfrig. Gott sei Dank geht ein Personenzug." Selbst angesichts der letzten Dinge bleibt die Lebenslust ihr oberstes Gebot: Wenn Grete liebt, dann unterbricht sie weder Tod noch Teufel. Als einer der engsten Simplicissimus-Mitarbeiter, der Zeichner Rudolf Wilke, überraschend an einer Lungenentzündung stirbt, wird Grete von der Schreckensnachricht im Ehebett überrascht: "Abends liegt Olaf bei mir und schläft ein Bissle ein, da bumst H. H. herein und sagt, daß Wilke gestorben ist." Ende des Eintrags, basta, und fortan kein Wort mehr von diesem Trauerfall.
Mit Franziska von Reventlow, die dem Leser hier am ehesten in den Sinn kommen könnte, hat Grete Gulbransson allenfalls die ungezwungene Egozentrik gemeinsam. Von deren Charisma und Talenten hingegen hat sie nichts. Das wird nicht nur in ihren belanglosen Zeichnungen und Versen bemerkbar, sondern mehr noch dort, wo sie von Begegnungen mit Dichtern und Künstlern erzählt. Sie kennt ja nicht nur alle persönlich, ihr entgeht auch kein Gerücht. Dem leider desinteressierten Olaf liest sie einmal etwas "von Mann" vor, das "gewiß gut ist". Freilich, keine Rose ohne Dornen: "Ein schwerblütiger Künstler, der Thomas Mann. Arme Katja." Weniger schwerblütig ist Hermann Hesse, ein deshalb gerngesehener Besucher im Gulbranssonschen Haus. Im Februar 1908, eben beschaut man zu dritt alte Photoalben, kommt es Grete in den Sinn, "wie schön die Seele von Hesse ist". Noch schöner ist, daß sie ihm "schrankenlos" von "meiner sinnlichen Liebe zu meinem Heimatland" erzählen kann, worauf er ihre Gedichte lesen muß - "und alles wird los an ihm". So losgelassen, und das ist dann am allerschönsten, "schaut Hesse Olaf an und sagt: ,Tu Du des Frauele hüten.' - Dann geht er, nachdem dieser harmonische, glückliche Tag seine höchste Steigerung erreicht hat."
Man liest es nicht ohne Erschütterung. An einem noch prominenteren Dichter entdeckt das Frauele unbekannte, ja abgründige Züge: "Der Ganghofer . . . niesst alle Augenblicke auf eine merkwürdige, faszinierende Art - und ich Esel frag' ihn, ob er einen Schnupfen hat oder ob das ein Ausdruck von Wonne sei? Der Arme antwortet: ,Keines von beiden' und ich merk, dass es eine Nevenleiden ist und schäm' mich furchtbar."
Dieser Zartsinn beschränkt sich freilich auf die Dichterseelen, auf deren Reinheit Grete ihr Ego gründet. Sobald diese Einheit gefährdet scheint, ist Grete zum Äußersten bereit. Daß Karl Kraus 1911 in einer berühmt gewordenen Polemik Heine angreift, kommt ihn hier teuer zu stehen: "eine Laus, so ein kleiner raceloser Pinscher, dieser Parasit . . . - ah, - nein, - pfui - schreiben kann ich's nicht - ich muss es schreien." Für den Fall, daß selbst dies dem Pinscher nicht den Garaus machen sollte, fügt sie ein paar Metaphern hinzu, vor denen auch die Fackel erlöschen müßte: "Verwelkender Mist der Zeit! Und Heine - wie ein ewiger blauer Rittersporn. Der so vieles hat ist schön!! Denn die Schönheit liegt wie ein reiner Sonnenschein auf seinen anderen Eigenschaften."
Friederike Kempner hätte es nicht besser sagen können. Eine Frau Stöhr des Schwabinger Zauberbergs, plaudert Grete im Brustton intimer Vertrautheit über "Hoffmansthal" und "Reinhart" und "den enormen, berühmten Sänger Slessak" und nennt das Ganze dann "et ondefuldt selskab", was die Übersetzerin höflich in das vermutlich auch gemeinte "eine wundervolle Gesellschaft" zurechtrückt; tatsächlich verwechselt Grete die Vokabeln und schreibt "eine boshafte Gesellschaft".
Daß man ihr aber all diesen Unsinn, diese Mischung aus Banalitäten und Belangslosigkeiten auf die Dauer doch nicht übelnehmen, daß man am Ende sogar nicht umhinkann, diese egomane Erzählerin zu mögen, das liegt an ihrer frappierenden Unschuld. Wer immer Margarete Gulbransson gewesen sein mag - die hier erzählte Grete ist von unerschütterlicher, sprudelnder Naivität und immer in jenem Zustand, den sie einmal nach dem Aufwachen festhält: "Voll Geberlust und Gestaltungsdrang."
Die Resultate dieses Dranges werden hier mit äußerster Umsicht präsentiert. Die Edition ist ein Werk der Liebe - aber einer Liebe ohne Sinn und Verstand. Jede Zeile von Gretes Hand wird hier mit einer Demut behandelt, wie man sie auch vor Texten größerer Schriftsteller befremdlich finden würde. Ein Editionsbericht von annähernd zwanzig Seiten und 1350 Fußnoten zum Text dokumentieren eine editorische Energie, die manche Kafka-Arbeitsstelle beschämen könnte. Dieser üppigen Kommentierung ist nichts zu beiläufig. Was ein "Plaid" ist wird ebenso umständlich erläutert wie die Beschaffenheit einer "Gamasche", und wenn Grete einmal seufzt: "Dieser Suff hat mich ganz heruntergebracht", dann findet sich zum Lemma "Suff" die Anmerkung: "G. versuchte ihre Schmerzen durch Cognac zu lindern." Welche Schmerzen? "G. hatte Schmerzen und fühlte sich unwohl." Ach so.
Sonderbarerweise läßt diese Sorgfalt schlagartig nach, wenn das Norwegisch ins Spiel kommt, in dem ein zunehmend umfangreicher Teil der Notizen abgefaßt ist und dessen vorgebliche Übersetzung in den Fußnoten sich rasch als freie Bearbeitung erweist. Daß es sich bei Gretes Norwegisch um ein sonderbares Kauderwelsch handelt, bleibt dem sprachkundigen Leser so gänzlich verborgen. Er liest unterm Strich ein artiges "Wir sitzen herrlich im Bad, und das tut so gut", wo es heißen müßte: "Wir sitze schön in Bad und habe gut." Wenn Grete in zwar fehlerhaftem, aber unmißverständlichem Norwegisch hinschreibt: "Dann vögeln wir. Herrlich und selig", dann findet sich dazu in der Fußnote die keusche Übersetzung: "Wir genießen uns in vollen Zügen."
Grete Gulbransson, live und in Farbe auf 470 Seiten, im Großformat und mit allen Schikanen. Und das ist nur der erste Band, eine Auswahl aus den Tagebüchern vor 1904 bis 1912. Vier weitere Bände sind angekündigt, in derselben Ausstattung, bis 1934; das "Editionsprojekt" läuft. Die Germanistik ist ein gründliches Fach.
Grete Gulbransson: "Der grüne Vogel des Äthers". Tagebücher, Band 1: 1904 bis 1912. Herausgegeben und kommentiert von Ulrike Lang. Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt/Basel 1998. 471 S., geb., 128,- DM.
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