voller Mythen und Legenden, voller Dichter und Heiliger, wo die Rebellion so alt ist wie die Unterdrückung: ein turkmenisch-kurdischer Homer, dessen barocke Sprachmacht die Starrheit der türkischen Schriftsprache aufgebrochen hat. "Fast alle unsere Romanciers nehmen sich neben ihm wie Zimmerpflanzen aus", befand "Le Figaro". Das Klassische ist ein öffentliches Gut: Nirgends paßt Borges' Definition besser als auf Kemal und seine gewaltige mythische Landschaft.
Bereits die Reportagen aus der Çukurova, die Kemal in den fünfziger Jahren für die Zeitung "Cumhuriyet" schrieb, sorgten in Ankara für Furore, gab es doch kaum einen Intellektuellen, der nicht des Kommunismus beschuldigt wurde. Spätestens seit "Ince Memed" (Memed, mein Falke, 1962) aber wird die Çukurova mit ihren grünen Flüssen und Sümpfen, der gelben Hitze und den unvergeßlichen Mückenschwärmen zu einem Ort der Weltliteratur.
"Der Granatapfelbaum", jetzt von dem vorzüglichen Cornelius Bischoff ins Deutsche übertragen, dürfte zu den frühen Erzählungen gehören, die Kemal glücklich vor den Gendarmen verstecken konnte. Zwar herrschen hier noch der karge Stil des Chronisten und die einfache, den "Osmanli", den Städtern, kaum verständliche Sprache des Volks, doch um soziokulturelle Feldforschung handelt es sich nicht. Schon sind alle Elemente von Kemals Fabulieren da, das "aus Worten Universen" und aus dem anatolischen Mikrokosmos die wahren Welten der Wünsche und Träume erschafft, den Kosmos des Epikers. "Den Reichen kann jedermann lieben, den Armen lieben, darauf kommt es an", hat Kemal mit der ihm eigenen heiteren Unbeirrbarkeit immer wieder bekräftigt. Und nach dieser Maxime, so simpel wie schwer, erzählt er hier die wohlbekannte Geschichte von den Großgrundbesitzern und den Habenichtsen, von Elend, Ausbeutung, Hoffnungslosigkeit und vom Traum einer besseren Welt, das alles getaucht in die grellen Farben einer erhabenen Landschaft. Es ist das Epos der Çukurova, das Kemal immer neu erfindet. "Ali der Barde singt für seine Kameraden, vom Leid und von der Liebe, von der Schwindsucht und dem Sumpffieber, von Säuglingen und Kindern, von der Einsamkeit und der Fremde, von der Çukurova, ihren Moskitos und den grausamen Motoren, von der zerstörten Welt, den schönäugigen Gazellen und den schneebedeckten Bergen . . ." Traktoren und Desinfektionsmittel haben die Çukurova heimgesucht und mit den Vögeln, den Schmetterlingen, den Bäumen und dem Röhricht die Menschlichkeit liquidiert. Für die Großgrundbesitzer und ihre Pächter bedeuten sie Reichtum und Fortschritt, für die Bergbewohner, die seit Jahrhunderten den Sommer als Tagelöhner in der Ebene verbringen, Arbeitslosigkeit und Elend.
Längst hat die fortschritts- und technikversessene Türkei die Zerstörung ihrer bukolischen Welt durch die Maschinen in Kauf genommen. Aber selbst der süffisante europäische Leser, inzwischen mit den Schrecknissen der Profitlandwirtschaft wieder bestens vertraut, wird das Schwindelgefühl nachempfinden, das Memed und die anderen beim Anblick Tausender von Maffey-Fergusons ergreift. "Es lebe der Marschall Marshall!" tönt es triumphierend und geringschätzig den Bergleuten entgegen. Wenn es nirgendwo mehr Arbeit gibt und das Blut der Ochsen den Traktoren, den "Heimzerstörern", geopfert wird, was bleibt den Menschen übrig, als zu sterben? Doch Kemal kennt die unendliche Duldsamkeit und die verschmitzte Sturheit seines Volkes. Und so erscheint eine Frau, gibt den Vagabundierenden zu essen und erzählt - von dem roten Granatapfelbaum auf einem Hügel und der frischen, weißen Quelle, die unter ihm sprudelt, dort, wo die vierzig Auserwählten wohnen, im Reich der vierzig Augen, wo das Unsterblichkeitskraut wächst. Ein heiliger Baum ist das (bis heute ist in Anatolien der schamanistische Baumkult lebendig), aus Mekka ist er dem Heiligen Ali in die Çukurova gefolgt, zum Heil der Kranken und als Hoffnung der Hoffnungslosen. Eine Legende ist geboren, und die Männer glauben an sie. Natürlich gibt es den Baum, denn die Menschen brauchen ihn. Ihr Glück beruht darauf, ihn zu besingen und seine Geschichten zu erzählen. So werden sie jedes Jahr wie eh und je in die Çukurova hinabsteigen und nach den Bäumen, Quellen, Kräutern und heiligen Männern suchen.
Wer heute die wahre Çukurova sucht, wird sie dort finden, wo keine Traktoren und keine Pestizide ihr etwas anhaben können: in den wunderbaren Geschichten des Zauberers Yasar Kemal.
CLARA BRANCO
Yasar Kemal: "Der Granatapfelbaum". Aus dem Türkischen übersetzt von Cornelius Bischoff. Unionsverlag, Zürich 2002. 127 S., geb., 14,80 [Euro].
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