Tradition besteht darin, daß Stern Amerika mit der Welt verwechselt. Die Psychoanalysen der "Welt" sind sehr unterschiedlich. So handhaben die besseren Analytiker Europas kaum in einer derart geistlos technizistischen Weise ihre Instrumente, wie es lange Zeit am New Yorker Institut üblich war. Vor dem "intersubjective turn", den Stern gemeinsam mit einer Bostoner Arbeitsgruppe vertritt und der auch in Deutschland Debatten auslöste, gab es andere Proteste gegen diese unpersönliche Art der Behandlung, etwa von Heinz Kohut.
Stern verfolgt drei Interessen: einmal - das übernimmt er aus seinen Säuglingsbeobachtungen - den "now moment", den Gegenwartsmoment, eines psychischen Ereignisses festlegen zu können. Dafür führt er Interviews - "Was haben Sie heute morgen beim Frühstück erlebt?", "Was machten Sie letzte Woche am Strand?" (unsere Abbildung) - , in denen sich Bewußtseinseinheiten von einigen Sekunden kristallisieren. Bei dieser Art von Empirie kommt nicht viel mehr heraus als schlechter Empirismus. Das Wort "Gegenwartsmoment" gebraucht Stern einmal in klassifikatorischer und einmal in aufgeladener Bedeutung; in letzterer wird er zum "Begegnungsmoment", der für die Psychoanalyse wichtig ist. Seine Stärke besteht darin, daß er aus der Konstruktion als Situationsersatz herauswill, aber auch nicht steckenbleiben möchte in der Situation als dem, was über jede Konstruktion triumphiert. Er strebt eine Balance zwischen beiden an. Er will an die Realerfahrung heran und diese mit dem Leben aufladen. Das geht vielleicht in einer mystischen Erfahrung. In der Psychoanalyse geht es nicht, da diese sich von dem Schatten nährt, der über der augenblicklich gelebten Erfahrung liegt.
Während es in der Geschichte der Psychoanalyse einhundert Jahre um die Erforschung des Unbewußten ging, meint Stern, sei der mit dem Unbewußten argumentierende Analytiker in dieser Beziehung gefangen gewesen und habe das alles entscheidende Bewußtsein vernachlässigt. Jetzt will er, der mit der Erfahrung des Unbewußten ausgestattet ist, versuchen, dem Bewußtsein seine alles bestimmende Rolle zurückzugeben. Damit ist ein anderes Bewußtsein gemeint - dies sein Pathos - als das einstige, das wegen der Nichtberücksichtigung unbewußter Prozesse für eine psychotherapeutische Behandlung wertlos war. Auf diese Umkehrung der Werte kommt es Stern an: Gegenwart und Bewußtsein sind die Zentren der Schwerkraft. In ihnen steckt die Möglichkeit, dort anzukommen, wo die Existenz sich verwandelt. Das veränderte und verändernde Bewußtsein läßt sich nur in einer "intersubjektiven", psychoanalytischen Situation fassen, und daß diese nicht gestört werden soll durch eine übermäßige schulische Deutungsarbeit des Analytikers ist seine am nächsten an der Praxis orientierte Intention. Da liegt eine Klitterung vor, die den Erforscher des Gegenwartsmoments zum psychoanalytischen Praktiker, der das Erforschte anwendet, machen soll.
Sterns Unternehmen ist der Versuch, das Traumatisierende, von ihm mit dem Unbewußten gleichgesetzt, wegzuanalysieren. Die Lebensgeschichte des Patienten interessiert ihn so gut wie nicht. Entscheidend ist, daß er ihn "lebendig" macht. Lebendig ist er in der Gegenwart, im Jetztmoment, und der ist aller Pathologie enthoben - die Fallvignetten, die Stern bringt, sind sprechende Beispiele.
Daß durch die Feier des Jetztmoments die Übertragung positiviert, eher fixiert als bearbeitet wird, bereitet ihm keine Sorge. Wie es dazu gekommen ist, daß ein Mensch so verkümmert ist und keine "now moments" hat, interessiert ihn nicht. Das geballte Schicksal seiner Objektbeziehungen, seine Pathologie, fällt weg.
Die philosophischen Kenntnisse Sterns sind bescheiden, was man ihm nicht zum Vorwurf machen müßte, wenn er nicht soviel davon spräche. Seinen Hauptgewährsmann für die phänomenologische Methode, Husserl, interpretiert er falsch. Husserl geht es um das Sosein, um das Wesentliche, und seine von Stern zitierte Epoche-Setzung ist gerade nicht die Augenblickserfahrung, im Gegenteil wird diese "Epoche", was nichts anderes bedeutet als Abstand, ausgeschaltet. Die Gegenwart könne von der Vergangenheit in Geiselhaft genommen werden, sagt Stern mit Recht. Aber gerade dagegen ist die Psychoanalyse aufgebaut: Die Vergangenheit muß auferstehen und durchgearbeitet werden. Sie kann nicht durch ein Begegnungsmoment erlöst werden.
Wenn Stern seine Forschungsinstrumente, die teilweise einer veralteten psychologischen Methode entstammen, über Bord wirft, wird er vielleicht in Zukunft auf dem schwierigen Terrain der "Veränderungsprozesse in der Psychoanalyse" noch zu aufsehenerregenden Ergebnissen kommen. Es ist ihm jedenfalls zuzutrauen.
CAROLINE NEUBAUR
Daniel N. Stern: "Der Gegenwartsmoment". Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag. Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Vorspohl. Verlag Brandes & Apsel, Frankfurt am Main 2005. 285 S., geb., 29,- [Euro].
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