Unkenntlichkeit verstümmelt. Am Ende treten die Helden der Geschichte von der Bühne ab, ihre abgehackten Köpfe mit blutverkrustetem Haarschopf unterm Arm. In den Akten dazwischen erleben wir eine Hiobstragödie, einen Vater, der hilflos zusehen muss, wie eine Toten-Seilschaft aus alten Regimeschergen und neuen Revolutionswächtern in vereinter Grausamkeit und mit atemberaubendem Tempo seine fünf Kinder vernichtet.
Wir sind im Jahr 1980 in einer iranischen Provinzstadt. Das Land ist im Krieg und in Aufruhr. Eine Schreckensherrschaft ist zerfallen, die nächste folgt auf dem Fuß. Im Zentrum des Grauens steht die Familie eines in Unehren aus der Armee des Schahs entlassenen Offiziers. Als Patriot hatte er sich geweigert, an der Niederschlagung des Aufstandes in der Provinz Dhofar im Oman 1973 teilzunehmen, einem Stellvertreterkrieg, den der Schah im Auftrag Großbritanniens und Amerikas führte. Nach seiner Rückkehr begann der Niedergang seiner Familie, die im Strudel der Revolution endgültig in den Abgrund gerissen wird. Dabei ist dieser unglückselige Vater weder Held noch Opfer, sondern selbst ein Mörder - seiner eigenen Frau.
Das Drama hatte sich in den engen Fesseln patriarchalischen Denkens abgespielt, vor den Augen des ältesten Sohnes ersticht er die Mutter seiner fünf Kinder. Im Gefängnis begegnen sich Vater und Sohn nach Jahren wieder. Amir verkörpert den zögernden hamletschen Intellektuellen, einen Anhänger der vom Schah verfolgten kommunistischen Tudeh-Partei, der im Zuge der Revolution freikommt, nur um sich im Keller des väterlichen Hauses zu verbergen und in Depressionen zu verfallen. Während eines Verhörs hatte er seine Frau ein letztes Mal gesehen, geschunden von den Folterern des iranischen Geheimdienstes. Danach verliert sich ihre Spur. In dieser Nacht sitzt ihm sein Peiniger von einst gegenüber, untergetaucht bei seinem Opfer will er sich hier in Ruhe einen "Busch von Barthaaren ins Gesicht kleben", um dem neuen Unrechtsregime seine Dienste anzutragen. Amirs kleine Schwester sympathisiert mit den Volksmudschahedin, dem Rückgrat der neuen islamischen Machthaber. Nachdem sie im Keller des Hauses den Folterknecht des Schah-Regimes entdeckt hatte, lässt dieser sie auf perfide Weise eliminieren.
Auch der zweitälteste Sohn ist tot. Als Anhänger der nichtmuslimischen Volksfedaijin war er den Gottesmännern nur anfangs eine nützliche Speerspitze gegen den Schah. Masud, der jüngste, kehrt im Sarg aus dem Krieg gegen den Irak zurück. Nicht verloren, nur im Unglück ist die ältere der Schwestern, die als Ehefrau eines sadistischen Wendegewinnlers die Hölle auf Erden erduldet, vor der sie ihr Vater nicht bewahren kann und will. Ihr Mann verrichtet auch unter den neuen Diktatoren seine Henkersarbeit und lässt die "Schlangen im Volk", die Kinder, Brüder, Nachbarn und Freunde sein können, töten.
Er fange gar nicht an zu schreiben, bevor er seine Figuren nicht gesehen habe, sagte der 1940 im Nordosten Irans geborene Mahmud Doulatabadi vor einigen Jahren in einem Interview. Der Sohn eines mittellosen Handwerkers schlug sich jahrelang als Tagelöhner durch und verschlang nebenher die Werke der Weltliteratur. Mit zwanzig gelang ihm die Aufnahme in die Teheraner Theaterakademie. Vierzehn Jahre arbeitete er als Schauspieler, bis er 1975 während einer Gorki-Aufführung von der Bühne abgeholt und für zwei Jahre inhaftiert wurde. Bereits in den sechziger Jahren hatte Doulatabadi zu schreiben begonnen, sein dreitausend Seiten umfassendes Epos "Kelidar" von 1983, das 1999 auf Deutsch erschien, über einen Nomadenstamm brachte den Durchbruch. Heute gilt Doulatabadi als wichtigster Vertreter der zeitgenössischen iranischen Literatur und einer der wenigen iranischen Autoren, deren Stimme aus Iran in die Welt hinausdringt.
Mit dem bereits 1983 verfassten Roman "Der Colonel", der in Iran bis heute nicht erscheinen konnte, legt Doulatabadi abermals ein Werk von erschütternder Radikalität vor, das kompromisslos modern und zugleich der reichen persischen Erzähltradition verpflichtet ist. Surreal, kafkaesk, geisterhaft mutet die Szenerie an. Keller, Gefängniszellen, Leichenhäuser, Friedhöfe, Marktplätze, auf denen Massenexekutionen zelebriert werden, bilden eine Schauerlandschaft. Folterszenen, Verhöre, Bekenntnisse gehen unter die Haut. Atemlos, kataraktisch bricht die Tragödie herein, vornehmlich erzählt im Bewusstseinsstrom des Colonels und in den Monologen seiner Kinder, in die sich zahlreiche Figuren der iranischen Geschichte gleichsam als Geister hamletscher Väter mischen - der Begründer des modernen iranischen Staatswesens, Amir Kabir, der einstige Premier Mohammed Mossadegh, 1953 mit Hilfe der Amerikaner vom Schah gestürzt, Führer von kommunistischen Parteien und politischen Bewegungen, und schließlich das militärische Vorbild des Colonels, Mohammad Taghi Pessian. Dieser widersetzte sich standhaft den Briten und Russen und wurde am Ende von Widersachern aus dem eigenen Lager erschossen und geköpft, wie wir dem erhellenden Nachwort des Übersetzers entnehmen, das wie das Glossar hilfreich für die Leser hierzulande sein dürfte. Die rollenden Schädel sind es am Ende, die das Geheimnis bewahren: lieber zweifeln und irren, als kopflos durch die Geschichte marschieren und den vermeintlich gerechtesten aus der Reihe der Henker applaudieren. Nur nicht immer wieder der Chimäre des Revolutionären hinterherlaufen, nur nicht immer wieder mit dem Blut der Massen das Fundament einer neuen Diktatur gießen.
Pessimismus sei kein prägendes Element der iranischen Literatur, hatte Doulatabadi einmal bemerkt, nur Bitterkeit, eine bittere Realität. Im Angesicht der Katastrophe bleibt nichts, als auf eine persische Tugend zurückzugreifen: erzählen, um sich selbst zu retten, wie einst Scheherazade. Erzählen gegen die "kalte, bleierne Zeit", wie es im Buch heißt, Nacht um Nacht.
SABINE BERKING
Mahmud Doulatabadi: "Der Colonel". Roman. Aus dem Persischen und mit einem Nachwort von Bahman Nirumand. Unionsverlag, Zürich 2009. 215 S., geb., 19,90 [Euro].
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