durchhält.
In den Sommerferien unternimmt die Lehrerin April Harlency, gleichaltrig mit der Autorin, einen Ausflug in die Provinz. Vor fast 45 Jahren war sie schon einmal an einem Sommertag in das kleine Nest Stonebridge gekommen, achtjährig damals und voller Neugierde auf das Leben, das ihre Eltern als Pächter einer heruntergekommenen Teestube beginnen wollten. Das war 1953, im selben Jahr, in dem Elisabeth die Zweite gekrönt wurde und Josef Stalin starb. Von diesen Ereignissen der großen Politik bekam die kleine April aus den Gesprächen der Erwachsenen zwar so manches mit; aber die lebhafte Fantasie des Mädchens schuf aus abstrakten Begriffen eine eigene anschauliche Wirklichkeit. Die harte Realität des Eisernen Vorhangs zum Beispiel verwandelte sich für sie in ein fernes Gebilde aus rostigem Wellblech, das mit weißen Blüten behängt war.
Schon am Tag ihrer Ankunft in Stonebridge lernt April - im Englischen ist das kein seltener Vorname - die temperamentvolle Ruby kennen, die schnell ihre "neue, erste, beste Freundin" wird. Gemeinsam ziehen die beiden Mädchen auf Entdeckungstouren in die Umgebung, schlagen ihr geheimes Quartier in einem verlassenen Obstgarten auf und sind sich in allen wichtigen Fragen einig: Die Lehrerin ist eine seltsame alte Jungfer, verbotene Gruselkrimis sind ein Hochgenuss, und beim Metzger des Dorfes darf man nichts kaufen, weil er ein brutaler Mörder ist und niedliche Ferkel umbringt. Ein wenig klingt das nach unbeschwerter Backfischromantik und ungehemmter englischer Tierliebe, doch stellt sich bald heraus, dass auch aus der Sicht kichernder Mädchen die Welt keinesfalls immer in rosaroten Schweinchenfarben gemalt ist.
Nüchtern registriert April, wie schäbig ihr neues Zuhause ist, an dessen Wänden "die Farbtöne von Fleisch mit Kartoffeln und Gemüse" vorherrschen. Über solche Unzulänglichkeiten lohnt sich für sie und ihre neue Freundin jedoch kein Gespräch, und erst recht sprechen sie nicht über die dunklen Geheimnisse, die ihnen aus Scham voreinander den Mund verschließen. April ahnt zwar längst, dass Rubys Vater, ein "Schweinemörder" auch er, seine Tochter schlägt und misshandelt. Ruby aber erfindet immer neue Ausreden für ihre Verletzungen: Die Kellertreppe sei sie hinuntergefallen oder habe sich irgendwo gestoßen. Als der jähzornige Vater ihr aber mit dem Brotmesser die flammendroten Haare absäbelt, fallen selbst der fantasievollen Ruby keine Ausflüchte mehr ein. Eine der eindringlichsten Szenen des Buches schildert Aprils freundschaftliche Solidarität angesichts dieser Verstümmelung. Großmütig bietet sie an, auf ihre eigenen Zöpfe zu verzichten, um der Freundin den Verlust leichter zu machen. Die gemeinschaftliche Opferhandlung im Kinderzimmer leidet allerdings unter dem handwerklichen Ungeschick der beiden Friseusen wider Willen, und so entdeckt April anschließend im Spiegel, dass sich ihr vertrautes Gesicht in das des mittelalterlichen Kleinbauern aus ihrem Schulbuch verwandelt hat. Lachen und Entsetzen halten sich die Waage.
Mit ihren Eltern hat April zwar keine Probleme, denn die bleiben bei allen finanziellen Sorgen liebevoll und bemühen sich um Verständnis für ihre Tochter. Allerdings sehen sie in dem Hundefreund Mister Greenidge allein den liebenswerten älteren Stammgast ihres Lokals, der immer ein nettes Wort und ab und zu einige Extra-Pennys für April hat. Das Mädchen aber kennt einen anderen Mister Greenidge: den, der sie heimlich verfolgt, mit Küssen und Liebesgeständnissen bedrängt und sie so berührt, dass sie sich schmutzig und schlecht fühlen muss. Darüber aber kann April mit niemandem sprechen und quält sich mit dem Gedanken, selbst die Schuld für das alles zu tragen. Denn warum sonst sollte der alte Mann ausgerechnet sie für seine verstohlenen Liebkosungen ausgesucht haben?
Das alles wird unaufgeregt und mit erstaunlicher Gelassenheit erzählt. Deutsche Leser, die in jüngster Zeit in allen Medien ausführlich über entsprechende Vorfälle informiert wurden, mag es verblüffen, wie kunstvoll-beiläufig Mackay das heikle Thema des sexuellen Missbrauchs in ihre Kindheitsgeschichte einbettet. Denn nicht um juristische Fragen oder soziale Anklage geht es der Autorin, sie konzentriert sich allein auf die Perspektive des Mädchens, das keinen rettenden Ausweg aus ihren Qualen sieht.
Immer stärker erweist sich das kleine Dorf, das anfangs so idyllisch erschien, als Spiegel der großen Welt. Zwar erklären Aprils Eltern als aufrechte Anhänger der Labour Party ihrer Tochter geduldig die Unmenschlichkeit der Todesstrafe; aber gegen Gewalt und Unrecht in ihrer Nachbarschaft vermögen sie nichts auszurichten und entdecken auch nicht die Ursache für den Kummer ihres Kindes. Mächtiger als jede Weltanschauung erweist sich schließlich die Unberechenbarkeit des Todes. Als der berühmte Kunstprofessor, den die beiden Freundinnen vom Bahnhof abholen sollen, auf dem Weg zu seinem Vortrag plötzlich stirbt, wissen auch die Erwachsenen keinen Trost. "Armer Hund", lautet der lakonische Kommentar von Aprils Vater, der den vermeintlich Betrunkenen gerade eben noch in seiner Schubkarre durch das Dorf gefahren hat - wieder einmal sind Komik und Ernst eng miteinander verflochten.
Mackay gönnt ihren Lesern kein Happy End. In dem entlegenen Obstgarten bricht eines Tages ein Feuer aus, und bald darauf verlieren sich die beiden Freundinnen aus den Augen; denn keine ihrer Familien hält es lange in Stonebridge aus. Der längst erwachsenen April bleibt bei ihrem Sommerausflug in das Land ihrer Kindheit nur die Entdeckung von Rubys Grab und die melancholische Erkenntnis, dass das Vergangene vergangen ist und Versäumtes sich nicht nachholen lässt.
SABINE DOERING.
Shena Mackay: "Der brennende Obstgarten". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Rojahn-Deyk. C. H. Beck Verlag, München 1999. 290 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main