eines oberschlesischen Leutnants namens Alois Pokora (auf Deutsch: „Demut“).
Twardochs Stil ist dabei immersiv, expressiv, ja ekstatisch, aber zugleich auch kühl, kontrolliert und präzise. Schon mit dem ersten Satz ist der Ton gesetzt: „An dein Gesicht denke ich, wenn am schwarzen Himmel, noch tief über dem Horizont, der erste weiße Stern aufblinkt.“ Der Stern ist ein Schrapnell, der Himmel wölbt sich über Flandern, und am Horizont ist die Front. Wir sind im Krieg, aber es geht um eine Frau. Der Leutnant verzehrt sich im Schützengraben in unerfüllter Liebe zu Agnes, seiner Göttin und Herrin, die ihn quält, so gut sie kann. „Die Geometrie deiner Züge, tief in mein Hirn gebrannt, tiefer als die Gesichter meiner Eltern.“
Twardoch trägt gerne dick auf, das aber mit großer Konsequenz und einem Plan. Auf der Handlungsebene wird großes Actionkino geboten (Twardochs viel gelobter Roman „Der Boxer“ ist nicht zufällig als „King of Warsaw“ bereits zu einer Fernsehserie geworden), zudem werden jedoch auch mit einiger Ernsthaftigkeit kulturelle und politische Probleme erörtert. Bei Twardoch begegnen sich auf interessante und seltene Weise das „Autoritäre“ des Stils und das „Liberale“ der Reflexion.
Um mit dem Zweiten anzufangen: Es geht um Vorgänge, die einen konkreten historischen und sozialen Hintergrund haben. Es geht, wenn man will, um Mentalitätsgeschichte, um überindividuelle Erfahrungen von Demütigung, Erniedrigung und Nichtzugehörigkeit. Erfahren und erlitten hat sie Pokora als Bürger und Soldat des Deutschen Reiches und Vertreter der schlesischen Minderheit mit schlesischer („wasserpolnischer“) Muttersprache. Als Nichtdeutscher und Nichtpolen mit proletarischer Abstammung wurde Pokora von klein auf gehänselt und verachtet. Die Diskriminierung hat in ihm das Gefühl genährt, auf immer ein Niemand zu sein, den alle anderen drangsalieren dürfen. Dieser oberschlesischen Grundverfassung des „Underdog“-Seins, sprachlich, sozial, politisch und hier auch sexuell, widmet der Oberschlesier Twardoch breiten Raum.
Aber natürlich ist Pokora nicht nur der arme Kerl, für den man ihn halten könnte. Es schlägt in ihm, wie bei früheren Twardoch-Figuren, vielmehr auch das Herz eines Boxers. Zur geradezu rauschhaften Selbsterniedrigung seines Helden tritt ein robuster Verteidigungswille. Pokora, weltkriegsgestählt und mit zwei Eisernen Kreuzen dekoriert, wird sich als Haudegen nützlich machen. Mehr tot als lebendig, stürzt er sich nach Kriegsende als Zufalls-Spartakist in neue Scharmützel, konsumiert mit neuen Freunden viel Kokain, erlebt dank queerer Genoss*innen sein sexuelles Erwachen und tritt in einer Schlüsselszene bei der Roten Volksgarde sogar Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gegenüber.
Deren routinierte Ausführungen über die Revolution unterbricht Pokora, indem er die verdutzten Vordenker über die politische Macht des Nichts- und Niemandseins aufklärt. Er sei, so Pokora „in meiner Gesellschaftsklasse völlig entfremdet und in keiner höheren, überhaupt keiner anderen angekommen“. Pokora empfiehlt sich den Genossen als die „reine Anomie“, unsolidarisch, klassenlos, aber kampfbereit.
Worauf will Twardoch damit hinaus? Dass es für die wahrhaft Deklassierten niemals einen „Klassenstandpunkt“ geben kann? Aber könnte Pokora seinen Kampf um Würde nicht in den Dienst einer größeren Sache stellen? So weit kommt es nicht, Pokora entgeht knapp seiner Exekution durch Freikorpsmänner und wird daraufhin selbst ein Freikorpsmann, wobei auch dieses Engagement nicht von Dauer ist. Gerettet hat ihn ein deutscher Aristokrat und Herrenmensch, mit dem er einst in Gleiwitz die Schulbank drückte und der eine homoerotische Neigung zu Pokora hegt. Das aber nur im Geheimen, denn eigentlich will der Freund, wie er sagt, die Schwester von Rittmeister Theweleit ehelichen.
Rittmeister Theweleit? Hat Twardoch etwa Theweleits „Männerphantasien“ gelesen? Das Tolle am Roman ist, dass man diesem Autor alles zutraut, also Kitsch, Klischees, Pathos, grelle Effekte und Übertreibungen – aber dann eben auch eine Theweleit-Lektüre. Es geht ja in diesem Roman ganz zentral um soldatische Körper und erotische Fantasien.
Pokoras Geschichte lässt sich so auch als ein Stationendrama sexueller Irrtümer begreifen. Erst ist er eine Art „Incel“ – ein unfreiwillig zölibatär lebender Mann – in sadomasochistischer Abhängigkeit von einer Domina, dann lässt sich Pokora mangels Alternativen auf transgressive Abenteuer ein, um schließlich im Hafen der heteronormativen Kleinfamilie zu landen, aus dem ihn aber das alte Unterwerfungsbegehren alsbald wieder vertreibt. Pokoras einziger wirklich aktiver Einsatz gilt der eigenen Unterwerfung – aber ist das auch noch ein Reflex seiner Herkunft aus einer unterdrückten sozialen Schicht? Vielleicht haben die Genossen von der Roten Volksgarde ja recht, als sie kritisieren, Pokoras Blick auf die Weltrevolution lasse sich zu sehr von Individualpsychologie leiten. Das könnte auch für Twardochs Roman selbst gelten, der sich nicht entscheiden will (und muss), ob er nun großes Fantasiekino bieten will oder eine tiefer reichende Gesellschaftskritik.
CHRISTOPH BARTMANN
Auf der Handlungsebene
wird großes
Action-Kino geboten
Szczepan Twardoch:
Demut.
Roman. Aus dem
Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin, 2022.
464 Seiten, 25 Euro.
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