bewahren Moorleichen vor allem das, was weich ist, während sich die mineralischen Anteile ihrer Knochen auflösen: "der mann tollund, gegerbt / geledert, liegt unter / der grenze der luft, sein kopf / schläft im moor, die lungen / atmen schlamm: die haut / in ruhigen falten, ist schwarz gealtert / schläft: schläft ruhig trotz schlinge". Doch er wird auferstehen: "der mann tollund, der körper zerbröckelnd / und zart, wird über das moor laufen / neunzig meter nach links, in einer wolke / aus staub". Dort wird er auf Frau von Elling treffen.
Eva Maria Leuenberger (Jahrgang 1991) wurde für "Dekarnation" in diesem Jahr mit dem Basler Lyrikpreis ausgezeichnet. Es geht in diesem Debüt um ein Spiel mit Todesarten, Verletzungen, Verwandlungen, Verwesung. Ein Ich stellt sich die Fragen, wo es sich befindet und was es sein kann mit Imagination und Körper und Sprache. Sein Suchen, ein sich vortastendes Versuchen, beginnt in einem Tal, führt ins Moor, dann in die Schlucht und endet wieder im Tal, das sich verändert hat. Eine Befreiung scheint auf dieser Schreib-Reise gelungen: "und auf einmal schütteln wir den körper ab / das gesicht den mund / die haut die die grenzen zeichnet / einmal reißt der nebel ein / und die luft dringt durch - / stille taut auf und wasser: / tropft die worte weich".
Die Reduktion durch Entfleischung, Verwesungs- oder Konservierungsprozesse geht nicht nur thematisch, sondern auch formal in diese Dichtung ein, die materialhaft immer weniger wird, sich selbst gleichsam als einen Zersetzungs- und Verdauungsprozess reflektiert. Ein Wort ist ein Sprachkörper, leibhaft durch Rhythmus und Klang. So kann Sprache, wie ein Leichnam, dem Vorgang der Entfleischung unterliegen. Am Ende sind die Buchseiten fast leer. Auf verschiedener Blatthöhe erscheinen Sätze oder auch nur Satzteile, aus wenigen Silben. Seite 81 (und von hier an fällt die Paginierung weg): "und die luft:", Seite 82: "die luft sickert selbst, am ende", nächste Seite: "und das licht:", letzte Seite: "das licht fällt in die nacht".
Fast leere Seiten sind pathosverdächtig. Und Eva Maria Leuenberger pokert hoch. Mit "Dekarnation" schwingt das in unserem Kulturkreis geläufigere "Inkarnation" mit, die Fleischwerdung Gottes ("Et incarnatus est de spirito santo") und damit auch das Johannesevangelium ("Und das Wort ward Fleisch"); daneben sind die Bildbereiche der "Reinkarnation" da. Dichtung ist hier Schöpfung als Substanzgewinnung und -verlust, ein Geschehen in der Natur (Tal, Moor, Schlucht), aber auch im Gelände einer Sprachlandschaft, die durch englische Zitate von knapp einem Dutzend zeitgenössischer nordamerikanischer Dichterinnen lebt, zwischen Beth Bachmann (die über den Mord an ihrer Schwester schrieb), Claudia Rankine (die rassistische Morde an Schwarzen in ihre Lyrik holte) oder Anne Carson (die einmal von der Ermordung ihrer Tante schrieb). In "schlucht", ein graphisch durchgehend so gebrochener Text, dass er an Zerklüftungen, Felsabbrüche erinnern könnte, kommen Verse aus Sophokles- und Euripides-Dramen in den Text, in der englischen Übersetzung von Anne Carson. So unterlaufen, überspülen und tragen Stimmen der Weltliteratur die Zeilen Leuenbergers.
Und gegen Ende gibt es eine kleine Hommage an Emily Dickinson im weißen Kleid: "vielleicht ist sehnsucht ein weißes kleid / die knöpfe über der brust gereiht / und eine angenähte tasche / in der die hand alleine ruht".
Eva Maria Leuenberger ist eine belesene Dichterin, die weiß, was Klang ist. Ihre Texte sind intoniert, voller Assonanzen, Alliterationen, Reime. Und der "Sinn" (was immer das sein kann) darf hinter dem Sound zurückstehen, die Bedeutung der Wörter ist wandelbar, umkehrbar, so, als seien sie Chips, die ihren Wert ändern, je nachdem, wie und wohin sie geworfen werden. Alles spiegelt oder ist einander Echo, Variation, Mutation, Häutung. Das Reizvolle dieser Texte liegt in einem Hin und Her zwischen einfachsten Sätzen ("ich bin allein") und ins Abstrakte mündenden Formulierungen ("stell dir vor / die haut fällt von dir ab / wie die rinde / einer anderen zeit"). Beide Arten des Sprechens wechseln durchgehend. Der Leser gewinnt Boden, um ihn gleich wieder zu verlieren. Das Ganze hält zusammen, weil ein einfacher, fast märchenhafter Grundwortschatz als Grundierung dieser Sprachlandschaft verlässlich wiederkommt, etwa: Tal, Berg, Bach, Rand, Birke, Wind, Wasser, Vogel, Reh, Hund, Himmel, Boden, Moos, Staub, Körper, Haut, Wimper, Licht, Nebel, Nacht, Kind, Mutter, Tod, und daneben einzelne Zeilen wie in einem Liedrefrain wiederholt werden ("das bild knistert", "der chor singt"). Und auch das Ich, manchmal ophelienhaft, dann auf Charon anspielend, der die Toten über den Styx fährt ("manche augen sind offen/ manche mit münzen geschlossen"), ist sich immer wieder Doppelgängerin: "du siehst das gesicht / und schaust dir selbst / in die augen" oder "du spürst den sog des wassers / und greifst nach einer hand / sie ist warm und glatt / du schaust sie an, und siehst / deine eigene hand / der nebel zieht über dich / du hältst deine hand/ und sinkst".
Wo beginnt Überinstrumentierung, das, was man auch artistischen Kitsch nennen könnte? Ist ein Zuviel an Gutgemachtem möglich? Gute Lyrik ist Kalkül, Spracharbeit. Und dann? Fraglos bleibt "Dekarnation" ein eindrucksvolles Debüt und Eva Maria Leuenberger eine Autorin, von der wir noch lesen werden.
ANGELIKA OVERATH.
Eva Maria Leuenberger: "Dekarnation". Gedichte.
Literaturverlag Droschl, Graz 2019. 88 S., br., 19,- [Euro].
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