nicht erwartet haben. Zumal Rupp fürchten musste, zu lebenslänglicher Haft verurteilt zu werden - eben für solches Papier.
Tatsächlich aber hatten es die von Rainer Rupp als "Topas" von 1975 an bis 1989 gelieferten 1043 "Papiere" in sich. Denn nahezu allen Dokumenten (1009) war von der Nato die höchste ihrer Geheimhaltungsstufen vergeben worden: Cosmic Top Secret. An diese Qualität gewöhnt, benotete die HV A lediglich jede vierte Information nach ihren Maßstäben als "sehr wertvoll". Keine davon schaffte es je auf den Schreibtisch von Minister Erich Mielke oder den seines Stellvertreters Wolf. Allein in den Jahren 1975/76 erhielt das Politbüro der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) vereinzelt davon Kenntnis. Dafür gingen die Informationen in 927 Fällen bald vollständig an das sowjetische Komitee für Staatssicherheit (KGB) - und zwar schon an dem Tag, an dem die Unterlagen bei den Analytikern in der Zentrale der HV A eintrafen. Mithin zählte Rainer Rupp zwar zu den Agenten der HV A, sachlich aber war er einer der Besten des KGB.
In den Selbstzeugnissen Rupps, die nun die ehemaligen Obristen Klaus Eichner und Karl Rehbaum zusammenstellten, findet sich von alldem nichts. Vielmehr wird ein Jahrhundertspion präsentiert, auf den mit Stolz hochgesehen, und dessen Leben mit Briefen, Artikeln und Interviews schlüssig rekonstruiert wird. Die erste Hälfte des Bandes stellt eine Art biographisches Essay dar, die zweite das publizistische Wirken - von der Anwerbung als "Mosel" über den Karrierehöhepunkt seiner Tätigkeit in der Nato bis hin zum Publizisten. Der Mann, der im internationalen Sekretariat in das "Allerheiligste des Nato-Hauptquartiers" eingeschleust wurde, wird als politisch Überzeugter beschrieben, gleichwohl nicht als bescheiden: "Ich war einfach gut." Rupp gefällt die Vorstellung, durch ihn sei "die sowjetische Führung zu einer realistischen Einschätzung der Nato gelangt". Und: Er war Marxist und blieb es, auch wenn er die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), den Vorläufer der heutigen Linken, als "eine von Grund auf bürgerliche Partei" ansieht und seine politische Heimat in der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) hat.
"Ich habe spioniert. Und auf Spionage steht Strafe. Ganz klar. Ich beschwere mich nicht darüber", zitieren ihn seine Herausgeber. Aber: Er habe "zwar aus Überzeugung seine eigene Sicherheit riskiert, aber nicht aus Abenteuerlust die von Frau und Kindern". Am 17. November 1994 sieht sein Urteil zwölf Jahre Haft vor. Im Vorfeld gab es eine Art Deal zwischen Rupp und der Staatsanwaltschaft: "Ich gestehe ein, dass ich ,Topas' bin, und meine Frau", die bei der HV A "Türkis" hieß, "geht auf Kaution aus der Untersuchungshaft mit der Zusicherung, dass sie, falls keine weiteren schwerwiegenden Beweise gegen sie auftauchen, auch nach dem Urteil nach Hause gehen könnte. Und für mich würde die Bundesanwaltschaft statt lebenslang nur 15 Jahre Haft beantragen." So kam es. Nach vier Jahren Haft erfolgte ein Gnadengesuch, das auch Gräfin Marion von Dönhoff und Egon Bahr unterzeichneten. Es blieb erfolglos. Nach sechs Jahren Haft schließlich erfolgte seine Entlassung. Klassenjustiz würde vermutlich anders buchstabiert. Damit hatte Rupp die Strafe auf sich genommen, die auch andere hätte treffen können. Denn in seiner Zuständigkeit lag als Resident der HV A ein Schatzkästlein, zu dem auch Bürger gehörten, deren Namen "Rubin" und "Smaragd" lauteten.
Darüber schweigen die Herausgeber. Ihnen ist jedoch zugutezuhalten, dass sie von der Freiheit, die andere erkämpft haben, Gebrauch machen, um zu ihrer Vorstellung von Aufarbeitung beizutragen - die nicht selten verklärende Züge trägt, denn: Absicht sei es, wie Werner Großmann einleitend vermerkt, in lockerer Folge den Kundschaftern der HV A ein "publizistisches Denkmal" zu setzen. Rupp ging als "bedeutendste Quelle" voran, die nächste wird die Sekretärin des Politikers Martin Bangemann sein: Johanna Olbrich alias "Anna". Gleichwie - letztlich sollte Markus Wolf recht behalten, denn das Wissen über die Nato verhinderte keinesfalls das Verschwinden des kommunistischen Imperiums: Es war also "bei näherem Hinsehen nicht einmal gut, um an einem stillen Örtchen nutzbringend verwandt zu werden". Und Rupp musste dafür sechs Jahre sitzen.
HELMUT MÜLLER-ENBERGS
Klaus Eichner/Karl Rehbaum (Herausgeber): Deckname Topas. Der Spion Rainer Rupp in Selbstzeugnissen. edition ost, Berlin 2013. 256 S., 14,99 [Euro].
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