und schließlich nur noch in ihrer Stimme überlebte. Narkissos mußte sich am Wasser in sein Spiegelbild verlieben und daran zugrunde gehen. Aus seinem Blut entsproß die Narzisse, Symbol der Vergänglichkeit und des Todes.
Die Motive der Liebe und der Vergänglichkeit grundieren auch Friedrike Mayröckers Stimmenprosa. Zwischen Narkissus und Echo bestand zwar einmal ein Liebesverhältnis, für Narkissus aber ist die einstige Geliebte zur bloßen "Redeverflossenheit" geworden, und Echo umschwirrt als Trauervogel im "Flattertanz" seinen Kopf. Im Altersasyl haben Narkissus und Henry, der Freund mit dem "durchlöcherten Lungenflügel", Blickkontakt zur Außenwelt nur durchs Oberlichtfenster, nur mit dem Himmel. Melancholie und Todesnähe lassen die Erinnerungen und Wachträume wuchern.
Doch verfestigt und verkürzt meine Situationsskizze auf eigentlich unzulässige Weise den unaufhörlichen Assoziationsfluß dieser Rollenprosa. Auch für sie gilt, was wir von den früheren Texten Friedrike Mayröckers wissen: Wer keine Wünschelrute für sie besitzt, findet auf dem Spielfeld ihrer Sprache die poetischen Schätze nicht. Manchmal gleicht die wahrgenommene Wirklichkeit (das "zu Sehende" und "zu Hörende") einer Partitur von John Cage, von der es heißt: "frei auslegbar von jedem Mitglied des Orchesters". Das Bewußtsein kann "gleichzeitig in mehreren Personen beheimatet" sein; die Sprache vermag die "Innenseite der Dinge" zu berühren; nur dem antworten die Dinge, "der das gleiche Empfindungsniveau" hat.
Die Kundschafter der poetischen Phantasie schwärmen aus in ein Fabelreich der Wahrnehmungen und bringen ihre Beobachtungen heim, Sätze wie diesen: "Auf einer Nadelspitze haben ein Dutzend Engel Platz." Noch einmal: Wer sich von der vagierenden Poesie Friederike Mayröckers nicht in den Mahlstrom der Assoziationen hineinziehen läßt, wer ihren Sog nicht spürt, kann leicht auf Willkür schließen. Texte wie diese verlassen den Zuständigkeitsbereich ästhetischen Abwägens, sie wollen den Leser entweder ganz oder gar nicht. WALTER HINCK
Friederike Mayröcker: "Das zu Sehende, das zu Hörende". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 58 Seiten, br., 19,80 DM.
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