festen Konturen hervortreten kann.
Es ist eine Welt voller Trauer und voller Erinnerungen an die Katastrophen und Verluste der jüngeren Geschichte. Das Ich, das hier spricht, ist nicht einfach nur sehr alt und kann deshalb ein "Selbstporträt am Tropf" zeichnen, sondern es bewegt sich auch vornehmlich in der Vergangenheit. Selten blitzen aus den Elegien und Ängsten plötzlich Heiterkeit und Witz auf: "Du rufst aus dem Nebenzimmer / Fragst wie man Boogie-Woogie schreibt / Und ich denke sofort was für ein Glück / dass kein Krieg ausgebrochen ist / und kein großes Feuer die historischen / Denkmäler unserer Stadt verzehrt hat / unsere Körper und Wohnungen." Die Antwort an das fragende Du am Ende des Gedichts lautet: "man schreibt's wie man's spricht, / einfach Boogie-Woogie", und tatsächlich lebt das Wort Boogie-Woogie mindestens genauso von seinem Klang wie von seiner Bedeutung.
Aber diese Töne sind rar, stattdessen werden verstorbene Freunde, verlorene Gegenstände und historische Ereignisse heraufbeschworen. Zagajewskis biographische Urerfahrung ist die der Zwangsumsiedlung seiner Familie aus dem polnischen Lemberg (damals Lwów) im Rahmen der sogenannten Westverschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg. Zagajewski, 1945 geboren, erlebte sie selbst als Kind und in den immer präsenten Erzählungen seiner Familie.
Was ein Gedicht in solchen Zusammenhängen leisten kann, zeigt Zagajewski, wenn er von einem Türriegel berichtet. Sein Großvater unterrichtete an der Universität in Lemberg Deutsch, und um das Zuspätkommen von Studenten zu unterbinden, schob er kurz nach acht Uhr den Türriegel im Vorlesungssaal zu. Aus dieser Episode der ersten Strophe lässt der Autor in der zweiten Strophe seine Phantasie hervorsteigen: "Sie aber schliefen, schliefen lange, glücklich, / wussten nicht, dass diese Stadt untergehen würde / zusammen mit dem Riegel, dass alles ein Ende hätte / in Abtransport und Exekutionen, in Tränen, / und dass dieser Riegel einst / eine idyllische Erinnerung wäre, / eine Brosche aus Herculaneum, ein Schatz." Dieser Türriegel der alten Lemberger Universität, an der verschiedene Sprachen und Kulturen nebeneinander gelehrt wurden, existiert nur noch in der Wirklichkeit des Gedichts. Zagajewski hat ihn unter Schutt und Asche wie aus dem antiken Herculaneum geborgen. Der Riegel konnte zwar zu spät kommende Studenten abhalten, aber die schläfrige Idylle des Vorlesungssaals nicht vor dem Einbruch der Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts schützen.
Nicht alle Gedichte dieser Sammlung besitzen eine solche gedankliche Spannung, wie überhaupt gegenüber den vorherigen, herausragenden Bänden "Unsichtbare Hand" und "Asymmetrie" ein leichtes Nachlassen der Gestaltungskraft zu spüren ist. Immer noch aber schimmert der Glaube durch, dass Dichtung ein Wind sein könnte, der von den Göttern her weht, und immer noch lehrt Zagajewski seine Leser, Mitleid zu empfinden. Im programmatischen Eingangsgedicht "Das 20. Jahrhundert im Ruhestand" wird das Fazit gezogen: "Eines habe ich gelernt. / Nur das Mitleid zählt - / mit Menschen, Tieren, Bäumen und Bildern. // Es gibt nur das Mitleid, / immer zu spät." Zu spät, weil es die Kriege und Vertreibungen nicht verhindern konnte. Mit solchen Aussagen besitzen diese Gedichte in ihrer Rückwärtswendung aber gleichzeitig eine erschreckende Gegenwärtigkeit, so wie in den ehemals polnischen, heute ukrainischen Gebieten um Lemberg (heute Lwiw) wieder Krieg geführt wird. DIRK VON PETERSDORFF
Adam Zagajewski: "Das wahre Leben". Gedichte.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Hanser Verlag, München 2024.
72 S., geb., 22,- Euro.
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