Ermittlungen zu leiten. Doch die geraten ins Stocken. Es gibt keine Verdächtigen, keine Verbindung zwischen den Toten, kein Motiv. Immer wieder sitzen die Ermittler zusammen und rekapitulieren die Fakten. Van Veeteren kaut ratlos an einem Zahnstocher, die junge und ehrgeizige Inspektorin Beate Moerk bleibt bis tief in die Nacht am Schreibtisch. Hauptkommissar Bausen, kurz vor der Pensionierung, schlägt eine Partie Schach vor. Die Gedanken bewegen sich mehr als die Figuren in diesem Spiel. Sie kreisen um die Züge des Gegners, und diese Bewegung bildet Håkan Nesser ab.
Dabei überträgt sich die psychische Anspannung der Protagonisten auf den Leser. Die fieberhafte Suche, die Resignation zerrt an den Nerven. Spannung wird auch durch die Erzähltechnik erzeugt: Perspektivwechsel fächern den Fall auf und schließen die Sicht des Mörders mit ein, so dass der Leser Einblick in dessen Gedankenwelt erhält. Ermitteln heißt, einen Täter besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat. Subtile Übergänge zwischen den Textpassagen verschleiern aber die Identität des Mörders, so dass ein packendes Schwanken zwischen Ahnung und Zweifel entsteht.
Fest steht nur: Das Böse ist da. Es ist das "Prinzip, dem wir entgegensehen können, auf das wir uns als das absolute verlassen können. Das, was einen letztendlich nie enttäuscht." Van Veeteren nähert sich dieser Einsicht und dem Mörder immer mehr an, es wird auch Zeit, denn die junge Inspektorin Moerk verschwindet spurlos. Was hat sie nach Dienstschluss und vor ihrem Waldlauf entdeckt? Ist sie das vierte Opfer des Henkers? Van Veeteren geht ans Meer, den Strand entlang, auf dem festen Sand direkt am Wasser. Die Abendluft ist für die Jahreszeit zu mild, und den Spaziergänger beschleicht der Eindruck, der Wind komme aus der falschen Richtung. Die Landschaft hat bei Håkan Nesser symbolischen Wert, sie ist eingebunden in seine Weltdeutung, manchmal etwas forciert, aber doch nicht störend in diesem außergewöhnlich gut konstruierten Kriminalroman.
Das Kompositionsgefühl Nessers zeigt sich im Umgang mit seinen Figuren, die nicht nur zahnstocherkauende Typen sind, sondern problematische Menschen mit großem Durst. Miteinander verbunden werden sie über den Plot und über eine zentrale Idee: Die Familie als hoch verletzlicher und gefährdeter Lebensbereich spielt für die versammelten Einzelbiografien eine ebenso große Rolle wie für die Kriminalhandlung. Der Autor hat sich in Schweden mit all dem viel Anerkennung verschafft.
Wenn Van Veeteren nach dem großen Finale ein letztes Mal auf das Meer blickt, den Kollegen mit der Tochter auf den Schultern neben sich, räsonieren sie über ihre Arbeit in den Zeiten der Gnosis. Ganz mutlos sind sie nicht, denn sie haben im ewigen Kampf der Prinzipien die richtige Seite gewählt. Und zur Belohnung gibt es im Auto etwas Erlösung mit Sibelius und Grieg: "Zum ersten Mal seit mehreren Wochen, ja, eigentlich seitdem er hergekommen war, gelang es ihm, den Henker beiseite zu schieben. Ihn zu vergessen. Er saß einfach da, eingehüllt in die Musik . . . in eine Kuppel glasklarer Laute, während die Dämmerung hoch und über der weiten, flachen Landschaft verschwand."
SANDRA KERSCHBAUMER
Håkan Nesser: "Das vierte Opfer". Roman. Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt. btb Verlag, München 1999. 288 S., geb., 36,90 DM.
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