pathologische Zug, der diese artistische und doch so unfreie Existenz grundiert. Wir haben es mit einem Zwangscharakter zu tun, dessen Träger nach Gesetzen lebt, die allein er bestimmt.
Denn Francis Orme trägt Handschuhe, weiße Baumwollhandschuhe, die er nie ablegt und sofort gegen neue auswechselt, sobald sie schmutzig werden: "Handschuhmenschen sind magische Menschen. Handschuhe zu tragen, alles zu kontrollieren, was man berührt, kam einem erhabenen Schweben über der Welt gleich. Man konnte das Leben, all das Leid beobachten, man konnte beobachten, brauchte aber niemals etwas zu berühren." Wozu und, vor allem, woher dieses magische Denken? Das ist Gegenstand eines ungewöhnlichen Romans, in dem uns ein Figurenensemble präsentiert wird, dessen Abseitigkeiten wir eher aus dem Film kennen. Von Tod Brownings "Freaks" (1932) über Hitchcocks "Psycho" (1960), Truffauts "Wolfsjungen" (1969/70), David Lynchs "Eraserhead" (1977) und Chabrols "Phantomen des Hutmachers" (1981) bis hin zu Jean-Pierre Jeunets "Delicatessen" (1990) reicht der Referenzrahmen, in dem Careys Phantasie sich heftig auslebt. Seine Geschichte hat von allem etwas, ist Zirkusschau, Außenseiterpsychogramm und Endzeitmärchen in einem.
Francis Orme lebt mit seinen Eltern in einem großen, ehemals in Familienbesitz befindlichen, heruntergekommenen Mietshaus, dem Observatorium, das einst auf dem Land lag und mit der Zeit von der nahen, rasch wachsenden Stadt gewissermaßen angesogen wurde. Hier wohnten einmal vierundzwanzig Familien; doch nun, in einer Gegenwart, deren Unbestimmtheit der geographischen Randlage entspricht, sind es nur noch sieben Personen, denen das durch Auszug und Tod entvölkerte Haus ein schäbiges Obdach bietet; hoffnungslose, schon lange nicht mehr gesellschaftsfähige Existenzen, die in ihrer Verhaltensauffälligkeit Halt suchen: Miss Claire Higg, eine Jungfer, die nur noch in der Realität des Fernsehens lebt; Peter Bugg, der alte Hauslehrer, der seiner sadistischen Vergangenheit nicht entrinnen kann; die verwahrloste Hundedame, Zwanzig genannt, die sich einbildet, sie wäre ein Hund und auch so aussieht; und der Pförtner, der ein pedantisches Regiment führt - in dieser wie lose zusammengewürfelten, doch schicksalhaft aneinandergeketteten Gemeinschaft geht der Handschuhträger als Dieb um. Orme stiehlt seinen Eltern und Nachbarn die Gegenstände, die ihnen am Herzen liegen, versieht sie mit fortlaufenden Nummern und versteckt sie in einem unterirdischen Archiv, das er mit der Gewissenhaftigkeit dessen verwaltet, der glaubt, mit der Materie Macht zu gewinnen über die Menschen. Neunhundertsechsundneunzig alltägliche und weniger alltägliche Gegenstände, die eindeutig Fetischcharakter haben, sind es, deren letzter Das Objekt ist. Was es damit auf sich hat, erfährt der Leser im Zuge der Aufarbeitung einer heillosen Familiengeschichte. Das auf Verschwiegenheit angewiesene Idyll erfährt durch eine neue Mieterin Verunsicherung. Einziehen ins Haus der toten Seelen soll nämlich Anna Tap, eine fast blinde Frau um die dreißig, der besonders Francis Orme feindselig begegnet. Dieser versucht sie wieder zu vertreiben aus dem Haus, das viele Geheimnisse birgt, und gibt seinen Widerstand erst auf, als er merkt, daß sie seinen Alltag auf heilsame Weise durcheinanderbringt.
Wir wissen seit Freud um die systemstabilisierende Funktion einer Zwangsneurose und die Macht seelischer Energien, die sich irreguläre Bahnen suchen. Die Macke, die Francis Orme pflegt, dient ihm zur Bewältigung einer Berührungsangst, die sich auf beinahe alles erstreckt. Dazu hat er sich ein "Gesetz der weißen Handschuhe" auferlegt, einen Dekalog, an dem jeder Nervenarzt seine Freude hätte. Daß er dem am fulminanten Ende, an dem das Haus gesprengt wird und das Unterste zuoberst kommt, ein elftes Gebot hinzufügt, bedeutet einen Bruch, der ihm nicht nur das Weiterleben, sondern auch so etwas wie Normalität ermöglicht: "Ich würde einer dieser Menschen werden, ich würde anfangen zu reden, ich würde sogar aufhören zu sammeln und diesen höchst angenehmen Sockel in der Innenstadt verlassen. Und ich könnte sogar ein lieber Junge werden und diese Handschuhe tatsächlich ausziehen . . . und was dann?"
Wie dieser Francis Orme von seinem Sockel geholt wird, das zeigt Edward Carey in seinem erstaunlichen Romandebüt mit vertrackten Wendungen und übersichtlich wechselnden Erzählperspektiven. Das Buch, das von der englischsprachigen Welt begeistert aufgenommen wurde, liegt nun in einer glänzenden Übersetzung vor, und jeder, der sich davon überzeugen will, daß das Wagnis, das immer besteht, wenn ein Erzähler aus der Abnormität ein Lebensprinzip macht, auch glücken kann, sollte es lesen. Carey, Jahrgang 1970, kommt uns dabei nicht mit der verlogenen Pointe, derzufolge die Verrückten die Normalen sind. Es ist ein tiefsinniges und abstruses, präzise geschriebenes Werk voller Humanität.
Edward Carey: "Das verlorene Observatorium." Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Bürger. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2002. 400 S., geb., 24,- [Euro].
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