einer späten, zweiten Alphabetisierung. Bei einem Aufenthalt in Seoul ließ sich Bichsel von seiner Dolmetscherin die Struktur der koreanischen Buchstabenschrift erläutern und wurde unversehens zum enthusiastischen Schüler, der stolz wie ein Abc-Schütze den eigenen Namen buchstabiert - "Peta Bigsele" - und, nun schon nicht mehr auf Erstkläßler-Niveau, Whisky-Reklamen entziffert: "Tscho ni wo ka". Lautes Lesen verrät, welche weltweit bekannte Marke gemeint ist.
Freilich enthalten nicht alle Reden solche Überraschungen, vielmehr entspricht es dem Wesen einer dokumentierenden Sammlung, daß sich Themen wie Aperçus zwangsläufig wiederholen. Zu Bichsels Lieblingsgedanken gehört die Beschwörung der Solidarität der Leser, die zum universalen Beziehungsstifter wird: "Wenn ich auf der Straße zwei Menschen sehe, die aufeinander zulaufen und sich umarmen, ist mein erster Gedanke immer wieder: Die haben wohl dasselbe Buch gelesen." Was wie das Bekenntnis eines lesesüchtigen und etwas schlichten Voyeurs klingen könnte, verrät bei aller forcierten Naivität doch das tiefe Vertrauen in die gemeinschaftstiftende Kraft der Literatur, von der Bichsel in immer neuen Anläufen erzählt. Vielleicht war's ja auch gar ein Buch von ihm.
Daß Literatur alle Arten von Grenzen überwinden kann, gerade auch die der Nationalstaaten, ist ein zentraler Glaubenssatz Bichsels. Die vielsprachige Schweiz dient ihm als Beweis dafür, daß die Rede von "Nationalliteraturen" ein längst überholtes Konstrukt ist. Denn - damit zitiert Bichsel eine bekannte Tatsache - die Literaturen der französischen und der deutschen Schweiz haben kaum Gemeinsamkeiten, und ein Schriftsteller der deutschsprachigen Schweiz braucht den Rückhalt deutscher Verlage, um im Heimatland Anerkennung zu finden. Möglicherweise klingt in dieser Beobachtung ein wenig das Ressentiment des Propheten nach, der sich von seinen Landsleuten unterschätzt fühlt. In seiner Geburtstagsrede auf den siebzigjährigen Siegfried Unseld kokettiert Bichsel denn auch damit, in späten Jahren selbst zum Suhrkamp-Autor geworden zu sein und den Parnaß deutscher Geistigkeit erreicht zu haben - was die Edition dieser Reden offenkundig einmal mehr beweisen soll.
Bichsel verharrt mit seinen literatursoziologischen Betrachtungen indes nicht in der Gegenwart, sondern zitiert immer wieder gern seine Lieblinge aus der Schweizer Literaturgeschichte. An erster Stelle steht dabei Gottfried Keller, der ihm zum Vorbild seiner Ablehnung des heutigen "Neoliberalismus" wird. Allerdings bleiben Bichsels polemische Ausfälle gegen "höchst angesehene und skrupellose Verwaltungsräte" in ihrer Pauschalität dann doch beträchtlich hinter den genauen Analysen gesellschaftlicher Veränderungen in Kellers letztem Roman "Martin Salander" zurück. Und Bichsels Bemerkungen zum Ende der DDR, aufgezeichnet im Jahr 1991, wirken aus dem Abstand von mehr als einem Jahrzehnt vor allem rührend pathetisch. Seine Bewunderung der "Leser und Leserinnen in der DDR" und seine nachdrückliche Verteidigung des "Rechts auf Biographie" spiegeln da eher nur die Stimmung vieler westlicher Intellektueller kurz nach dem Fall der Mauer wider.
So liegt denn auch der eigentliche Wert der vorliegenden Sammlung in ihrem dokumentarischen Charakter. Die elf Reden aus zwanzig Jahren sind jeweils ganz auf den historischen Moment und ihren spezifischen Anlaß berechnet; tiefergreifende politische Analysen darf man von ihnen ebensowenig erwarten wie literarhistorische Entdeckungen. Bei aller Zufälligkeit der Chronologie verrät die Anordnung der Texte schließlich viel über das Selbstbewußtsein ihres Autors: Am Anfang des Bandes wird Goethe zitiert, an seinem Ende Martin Luther. Irgendwo zwischen diesen beiden Vorgängern mag Peter Bichsel seinen eigenen Ort als Leser und Schriftsteller sehen. Oder doch näher bei Jean Paul, der allerdings keine öffentlichen Reden gehalten hat?
SABINE DOERING
Peter Bichsel: "Das süße Gift der Buchstaben". Reden zur Literatur. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 142 S., br., 8,50 [Euro].
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