Schriftsteller, von dem Jonathan Franzen gesagt hat, er sei "anders als alle anderen heutigen Schriftsteller. Aber wie keiner von uns spricht er über uns alle".
Antrim kam 1975 als Schüler an die Woodberry Forest School. Im Mai dieses Jahres ist er für einen Tag dorthin zurückgekehrt. Nach vierzig Jahren hatte man den Autor, der nach seinen ersten Veröffentlichungen als Jungstar und eines der größten Talente seiner Generation galt, eingeladen, die Rede auf der jährlichen Abschlussfeier zu halten und den jungen Männern - Woodberry ist ein Internat ausschließlich für Jungen - einige Lebensweisheiten mit auf den Weg zu geben. Man kennt die Szenerie aus Hollywoodfilmen: Gereift und verantwortungsbewusst kehrt der Held an die Stätte seiner Jugend samt ihren Sünden zurück und hält eine Rede, die so lebensklug, integer, idealistisch, witzig, berührend, mutmachend und mitreißend ist, dass es mit dem Teufel zugehen müsste, wenn nicht jeder, der sie gehört hat, die Aula mit dem festen Vorsatz verlassen würde, den Rest seines Lebens als guter Amerikaner zu verbringen. Nur eines bleibt offen: Was bedeutet es heute, ein guter Amerikaner zu sein? Antrim stellte die Frage jedoch anders: Wie zum Teufel soll man es schaffen, auch nur ein halbwegs normales Leben zu führen?
Die Ansprache des Schriftstellers begann mit der Beschreibung eines Traums, den jedermann kennt: Es ist der Albtraum des Schauspielers, der nackt auf einer grell ausgeleuchteten Bühne steht, seinen Text vergessen hat und nicht weiß, welche Rolle er verkörpern soll. Was ist zu tun? Worum geht es? Was wird hier gespielt? Das sind die Fragen, die sich Antrims Figuren auch in wachem Zustand, in ihrem alltäglichen Leben stellen: völlig verpeilte weiße Männer verschiedenen Alters, die den "American dream", das Versprechen von Freiheit, Chancengleichheit und Selbstverwirklichung für alle, als Albtraum erfahren, weil sie von dem, was ein Selbst ausmacht, bis auf einige Splitter alles verloren haben. Sie sind wie groß gewordene Kinder, die beim Aufräumen unter ihrem Bett auf ein paar alte Puzzleteile stoßen, aber nur sehr vage Vorstellungen davon besitzen, zu welchem Bild sie einmal gehört haben könnten. Antrim veröffentlichte seinen Vortrag im "New Yorker" unter dem mehrdeutigen Titel "The Unprotected Life": das ungeschützte, das schutzlose, das verletzliche Leben. Er hätte den Absolventen der Woodberry Forest School genauso gut eine seiner neuen Erzählungen vorlesen können.
Ein Professor probt mit seinen Studierenden Shakespeares "Sommernachtstraum", und die Aufführung auf der Freilichtbühne endet in einem Desaster aus Regen, Schlamm, Drogen und Sex ("Ein Schauspieler bereitet sich vor"). Ein junges Paar trifft sich an den Wochenenden in den Wohnungen seiner verreisten Freunde und Bekannten, um zu trinken, miteinander ins Bett zu gehen und sich darüber hinwegzutäuschen, dass sie beide kein Leben haben, das sie mit dem anderen teilen könnten ("Trost"). Ein Mann, der gern ein Dichter wäre, erkennt in einem Straßenmusikanten in der U-Bahnstation den Vater seines Stiefsohns, mit dem er gerade einen Ausflug machen will, und strandet mit ihm und dem Jungen in einer Bar ("Teich mit Schlamm"). Ein alter, arbeitsunfähiger Schauspieler macht mit seiner jüngeren Lebensgefährtin einen Einkaufsbummel und landet im Halloween-Getümmel, in dem er als Einziger kein Kostüm trägt und sich deshalb kostümiert fühlt ("Er wusste es"). Ein Mann will für seine Frau, von der er weiß, dass sie ihn mit dem Mann ihrer Freundin, mit der er selbst eine Affäre hatte, betrügt, einen Blumenstrauß kaufen und hat im Blumenladen einen psychischen Zusammenbruch ("Noch einen Manhattan").
Donald Antrim erzählt von Menschen, die auf dünnem Eis unterwegs sind, denen jederzeit der Boden unter den Füßen wegbrechen kann und die einen großen Teil ihrer Zeit unfähig sind, ihren Alltag zu überstehen, geschweige denn zu gestalten. Sie fallen aus ihrer Identität wie ein Schauspieler aus seiner Rolle. Sie sind hochnotkomisch, und Antrims Meisterschaft zeigt sich nicht zuletzt in der komödiantischen Zuspitzung der Schwierigkeiten, in die er seine taumelnden Figuren geraten lässt. Sie sind verzweifelt und lächerlich, und sie wissen es. Deshalb betäuben und stabilisieren sie sich notdürftig mit Alkohol, Drogen und Medikamenten. Wenn man Antrims neuen Erzählungsband "Das smaragdene Licht in der Luft" ans Ohr hielte und wie eine Rumbakugel schütteln würde, müsste er eigentlich klingen wie ein halbleeres Tablettenröhrchen: Psychopharmaka geben hier den Takt vor.
Es ist ein unregelmäßiger Takt, denn die psychischen Krisen und Zusammenbrüche kommen und gehen, wie sie wollen. Mal gibt es erste Anzeichen, beunruhigende Krisensymptome, mal läuten die Alarmglocken schrill und unüberhörbar, weshalb die Figuren sich unablässig in der trügerischen Kunst der Selbstbeobachtung üben. Sie sind auf der Hut vor sich selbst, vor jenem Teil ihrer Persönlichkeit, der sich ihrer Kontrolle entzieht. Sie sehnen sich nach Verständnis, Strafe, Erlösung. Ständig fallen sie sich selbst ins Wort, weisen sich zurecht, fällen Urteile, bevor andere es tun. Sie wissen, dass es Regeln gibt, deren Nichtbeachtung schwere Konsequenzen nach sich zieht: "Es ist nicht der Stromschlag. Es ist der vom Stromschlag ausgelöste epileptische Anfall. Atropin wird zugeführt, damit das Herz weiterarbeitet. Es folgt das Narkosemittel, und danach Succinylcholin, das die Muskeln entspannt. Lebenserhaltende Maßnahmen sind erforderlich. Eine stramm aufgepumpte Blutdruckmanschette um einen Knöchel sorgt dafür, dass kein Succinylcholin in den Fuß gelangt, an dem sich der Krampf , wenn der Stromschlag verabreicht wird, als Zuckung der Zehen beobachten lässt. Kopf und Herz sind verkabelt . . . Das Narkosemittel wird zugeführt, Schwärze tritt ein, und dann plötzlich, als wäre nichts geschehen, fragt die Stimme der Schwester: ,Können Sie mir sagen, wo Sie sind?'"
Nicht die Sucht ist Antrims Thema, auch wenn Scotch, Wodka, Valium, Joints, muskelentspannende Medikamente und Antidepressiva aller Art durch die Erzählungen rauschen wie ein sanfter, niemals endender, alle Sinne lähmender Landregen durch einen Film von Angelopoulos. Die Sucht ist nicht Ursache, sondern Folgeerscheinung einer psychischen Dysfunktionalität, nach deren Wurzeln nicht gefragt wird. Antrim beschreibt Bewusstseinszustände und deren Auswirkungen: Man lebt in dem Wissen, dass man nicht mehr weiß, wie das geht - ein Leben zu führen. Es gibt keinen gesellschaftlichen oder politischen Kontext, den man verantwortlich machen könnte. Es gibt nur Krise und Krankheit, misslingende Beziehungen, berufliches Scheitern, traumatische Trennungen, oberflächliche Hoffnungen, tiefsitzendes Misstrauen, nicht zuletzt gegen sich selbst: "Das Problem war sein Denkvorgang: Das Lithium, das er in geringer Dosierung nahm, sorgte für ein langsameres Tempo der Wirklichkeit. Entweder das Lithium oder der Cocktail aus Antidepressiva oder das Zusammenwirken beider. Manchmal, wenn er sprach, kam es ihm vor, als wehte so etwas wie ein geistiger Wind seine Gedanken zu ihm zurück und zwänge ihn, unsicher seine Syntax zu ordnen, während er Worte hervorstieß."
Vor zehn Jahren beendete Antrim die Arbeit an einem Roman über seine Mutter, die Alkoholikerin war. Anschließend verfiel er in eine schwere Depression, war suizidgefährdet und musste eingewiesen werden. Als das Buch erschien, lag er in einer Klinik und war unfähig, die Rezensionen zu lesen, denn die Worte vor seinen Augen hatten aufgehört, einen Sinn zu ergeben: "Mein Nervensystem lag im Sterben." Die Geschichte vom schutzlosen Leben, die Donald Antrim in seiner alten Schule erzählte, war seine eigene. Doch seine neuen Erzählungen sind keine Berichte über die Krankheit ihres Verfassers. Sie handeln wie alle großen Werke der Literatur von der Verwundbarkeit der menschlichen Seele.
Donald Antrim: "Das smaragdene Licht in der Luft". Storys.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2015. 224 S., geb., 18,95 [Euro].
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