interessant.
Der Marburger Metropolis Verlag hat sich entschlossen, Bubers Sammlung nach etwa einem Jahrhundert wieder herauszugeben; allerdings auf zweierlei Weise erweitert, um die heutige Leserschaft anzusprechen. Zum einen erhält jeder von Buber herausgegebene Band einen modernen Kommentar aus berufener Feder. Zum anderen erweitert der Verlag die Sammlung um zeitgenössische Themen wie die Entwicklung, die Buber nicht aufgenommen hatte.
Die Sammlung beginnt mit einer Arbeit des bekannten Ökonomen und Soziologen Werner Sombart (1863 bis 1941) über das Proletariat, die der Jesuit und Sozialethiker Friedhelm Hengsbach aus aktueller Perspektive einordnet. Dabei machte der gebildete Feuerkopf Sombart von Beginn an klar, dass er wohl über das Proletariat, aber keines für das Proletariat zu schreiben gedachte: Seiner Arbeit stellte er als superbe Einstiegshürde den Beginn eines Gesangs von Giacomo Leopardi im italienischen Original und ohne Quellenangabe voran. Auch später tauchten Sätze auf, die den Besuch eines humanistischen Gymnasiums voraussetzten: "Darunter verstehe ich, sagen wir einmal: Habenichtse, die besitzlose Bevölkerung, il popolino, den peuple in jenem umfassenderen Sinne, wie ihn Louis Blanc wohl nicht meinte, aber doch in Wirklichkeit bezeichnete, wenn er diejenigen Bürger darunter verstand, qui ne possédant pas de capital dépendent d'autroi complètement, einschließlich der ganz winzigen, wir sagen richtigerweise proletarischen, Existenzen unter den ,selbständigen' Landwirten und Gewerbetreibenden."
Zwischen ein Drittel und ein Fünftel der Bevölkerung des Deutschen Reiches rechnete Sombart zum Proletariat, und obwohl dies ein bedeutender Teil der Gesamtbevölkerung war, bekam das Bürgertum von ihm nicht viel mit. Aus der Warte des materiell gutsituierten und in einer Breslauer Villa wohnenden Gelehrten liest sich das so: "Wie es (gemeint ist das Proletariat) den Tag anfängt, davon erfahren wir höchstens einmal, wenn wir nach einer durchtanzten Nacht oder einer ausgedehnten Pokerpartie früh um fünf oder sechs nach Hause kommen oder wenn wir zum Frühzuge zum Bahnhof gehen."
Als Sombart diese Zeilen schrieb, hatte er sich längst von einem ehemals naiv Fortschrittsgläubigen in einen elitären Kulturkonservativen verwandelt, der in der in zubetonierten Großstädten lebenden industriellen Massengesellschaft den Verlust einer romantisch verklärten Welt beklagte, in der die Menschen zwar materiell arm, aber seelisch reich waren. "Das Arbeiterkind weiß nichts mehr von den heimlichen Reizen, die die Natur dem Hirtenbuben in tausendfachen Weisen bietet", klagt Sombart, der mit der Naturwüchsigkeit auch die Bindungskraft der Familie und aller traditioneller Werte verlorengehen sah.
In seinem umfangreichen Beitrag sieht Hengsbach einen guten Teil der Sombartschen Kapitalismusanalyse als immer noch brauchbar an, auch wenn die materielle Situation der heutigen Armen ungleich besser ist als das Los der Proletarier von vor 1200 Jahren. Bedenklich stimmt ihn unter anderem, dass heute wie damals das Vertrauen in die Kompetenz und Glaubwürdigkeit der Politik erschüttert ist.
Im zweiten Band von Bubers Sammlung liefert Eduard Bernstein eine Beschreibung der Arbeiterbewegung. Anders als Sombart, der vor allem eine konkrete Beschreibung der Lebensverhältnisse leistet, geht es Bernstein um eine Analyse "der politischen und der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiterschaft" (Hans G. Nutzinger). Bernstein beginnt im späten Mittelalter und arbeitet sich straff bis in das frühe 20. Jahrhundert vor. Für eine Überblicksdarstellung - und viel mehr wollte Bubers Sammlung ja auch nicht bieten - ist das Buch sehr gut geeignet.
Fast interessanter als das Werk ist der Autor. Eduard Bernstein führte Ende des 19. Jahrhunderts die damals in ideologischer Hinsicht noch straff marxistisch ausgerichtete SPD in den sogenannten "Revisionismusstreit". Bernstein hielt das Festhalten an Marx und den Glauben an die proletarische Revolution, die alles hinwegfegen werde, für nicht im Interesse der Arbeiterschaft liegend. Vielmehr sah Bernstein - wie übrigens auch Sombart, dem seinerzeit die Position eines "Chefideologen" der SPD in Aussicht gestellt wurde - den Kapitalismus nicht verschwinden, sondern sich verfestigen.
Daraus folgte Bernsteins Forderung, die SPD müsse ihre parlamentarische Macht nutzen, um die Regierung zu bilden und dort eine arbeiterfreundliche Politik zu betreiben. Für die Fundamentalisten war eine solche Position Verrat an den revolutionären Idealen der Arbeiterbewegung. Bernstein fiel in Ungnade. Der weitere Gang der Geschichte ist bekannt: Die Fundamentalisten verließen die SPD und gründeten die KPD, während die Position Bernsteins sich allmählich durchsetzte. Insofern lässt sich Bernstein auch als einer der spirituellen Väter des Godesberger Programms ansehen.
GERALD BRAUNBERGER
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