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"Das Palmenhaus" ist der erste Roman des brasilianischen Literaturprofessors Carlos Nascimento Silva. Über Generationen hinweg verfolgt er das Schicksal der Sodre-Familie, das sich in der "Casa da Palma" im Norden Brasiliens vollzieht. Schon Joao Sodre, 1739 nach Brasilien eingewandert, setzt sich über alle Gesetze hinweg. Die Lebensläufe seiner Nachkommen sind geprägt von Machtwillen, Tabuverletzungen, vor allen Dingen aber von der Stärke der Frauen und ihren magischen Gaben. Ein literarisch-historisches Porträt Brasiliens zwischen Kolonialismus, Sklaverei, Goldrausch und Krieg.
Produktdetails
- List Taschenbücher
- Verlag: List TB.
- Seitenzahl: 639
- Abmessung: 40mm x 130mm x 200mm
- Gewicht: 513g
- ISBN-13: 9783612650887
- ISBN-10: 3612650882
- Artikelnr.: 24802511
Herstellerkennzeichnung
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Stammbaum in tropischer Fülle
Carlos Nascimento Silva traut der Familie alles zu
In unserer schönen Welt des Marketings ist jede Verpackung eine Botschaft. Noch das Rascheln des Einwickelpapiers scheint uns ins Ohr zu flüstern: "Nimm mich, kauf mich, mein Inhalt macht dich glücklich." So befriedigt der Schutzumschlag, welcher die deutsche Übersetzung von Carlos Nascimento Silvas Romanerstling "Das Palmenhaus" umschließt, unser Bedürfnis nach Exotik, verheißt die dunkelgrüne Hülle doch tropische Fülle.
Die Farblithographie "Südamerikanischer Urwald" aus der Serie "Adolf Lehmanns geographische Charakterbilder" läßt um ein träges Gewässer herum die Flora üppig wuchern, von den Farnen am Boden über die Lianen
Carlos Nascimento Silva traut der Familie alles zu
In unserer schönen Welt des Marketings ist jede Verpackung eine Botschaft. Noch das Rascheln des Einwickelpapiers scheint uns ins Ohr zu flüstern: "Nimm mich, kauf mich, mein Inhalt macht dich glücklich." So befriedigt der Schutzumschlag, welcher die deutsche Übersetzung von Carlos Nascimento Silvas Romanerstling "Das Palmenhaus" umschließt, unser Bedürfnis nach Exotik, verheißt die dunkelgrüne Hülle doch tropische Fülle.
Die Farblithographie "Südamerikanischer Urwald" aus der Serie "Adolf Lehmanns geographische Charakterbilder" läßt um ein träges Gewässer herum die Flora üppig wuchern, von den Farnen am Boden über die Lianen
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an den riesigen Stämmen bis hinauf in die ausladenden Kronen der Bäume, wo sich die Affen tummeln. Mit Mühe wirft die Abendsonne ihren rötlichen Schimmer durch das dichte Blätterdach.
Einen etwas anderen Anblick bietet dagegen die vor drei Jahren veröffentlichte brasilianische Originalausgabe. Den beigefarbenen Einband ziert die Rötelzeichnung einer jungen Frau mit altmodischer Frisur und eigentümlich nach innen gekehrtem Blick; das Porträt ist zwischen zwei stilisierte Palmen in Grau gesetzt. Von amazonischer Farbenfreude also weit und breit keine Spur - den deutschen Verlag scheint nicht weiter gekümmert zu haben, daß das Gebiet um den größten Strom der Erde im Text überhaupt nicht vorkommt. Der Roman spielt im steppenartigen Hinterland der Bundesstaaten Ceará und Pernambuco, dem Sertão; mit dem tropischen Regenwald hat dieser ebensoviel Ähnlichkeit wie die Lüneburger Heide mit dem Altmühltal.
In seinem späten erzählerischen Debüt zeichnet der 1937 geborene Literaturwissenschaftler Carlos Nascimento Silva die Erschließung und Besiedelung der Wildnis am Beispiel eines Gutes und seiner Bewohner nach. Die Romanzeit reicht bis ins späte siebzehnte Jahrhundert zurück, als die Kolonialmacht Portugal den Zenit ihres Einflusses überschritten hatte, und endet 1885, also vier Jahre bevor der brasilianische Kaiser Pedro II. abdankt und die Republik ausgerufen wird. Der Weg des umtriebigen Sodré-Clans führt vom europäischen Mutterland über Afrika in den Nordosten Brasiliens.
Das "Palmenhaus" im Titel meint zugleich ein Gebäude, eine beinahe selbstgenügsame Wirtschaftsgemeinschaft und den Sitz einer Familie, welche ihren Besitz von Generation zu Generation mehrt und weitervererbt. Da sich die Verwandtschaftsverhältnisse am thebanischen Hof zu Zeiten des Königs Ödipus vergleichsweise geradlinig ausnehmen, verlöre man doch sehr schnell den Überblick, wäre dem Roman nicht eine genealogische Schautafel vorangestellt. Der Stammbaum ähnelt weit eher dem Dornengestrüpp der nordöstlichen Hochebenen; durch Inzest und Bigamie verzweigt er sich in alle möglichen Richtungen.
Als Orientierung im Beziehungsdickicht dient die Figur der Mariana Sodré Coutinho. Wir begleiten das lebhafte junge Mädchen bis zu seinem Tod im biblischen Alter von 114 Jahren. Der späteren Matriarchin der Sippe wird nicht nur die fast ungeteilte Aufmerksamkeit des allwissenden Erzählers zuteil, ja sie darf sich sogar dessen Stimme ausborgen. Denn sonst setzt der brasilianische Text die durch Verschleifungen nachlässige Umgangssprache der Charaktere scharf gegen den getrageneren Ton der Erzählerrede ab, was in der Übersetzung weniger ins Auge sticht.
Doch wenn Mariana abends der Mestizin Celeste, der Dienerin und Geliebten, in langen Rückblenden die Taten und Untaten ihres - wie sich allmählich herausstellen wird - gemeinsamen Großvaters Bartholomeu entwickelt, dann klingt sie wie der distanzierte Erzähler, auch wenn sie bemerkt: "Schau, Kleines, du bittest mich um eine Geschichte, und kaum beginne ich sie zu erzählen, merke ich, daß ich längst mittendrin war. Begreifst du, was ich dir sagen will? Es gibt nie einen Schlußpunkt, wir geraten immer tiefer hinein. Es handelt sich ja nicht nur um die Geschichte von Bartholomeu oder Dom Pedro, sondern auch um unsere eigene. Merkst du, wo uns das hinführt?"
Die Karriere des Bartholomeu Sodré führt mit Energie, Ausdauer und einer Portion Skrupellosigkeit, ohne die der Kontinent weder kolonisiert noch die Ureinwohner "befriedet" worden wären, aus ärmlichen Anfängen zu Reichtum und Großgrundbesitz. Allerdings wird der Weg zum Erfolg von den Tränen jener Frauen begossen, die Bartholomeu wie Beutestücke in Besitz nimmt: Er vergewaltigt nicht nur die Indianerin Kura'wá, die den Göttern ihres Stammes geweiht war, sondern behält sich auch zeit seines Lebens vor, alle Frauen der Familie zu entjungfern, aus Rache am Vater.
Zunächst unterwirft er sich seine zarte Halbschwester Maria Candida, mit der er Marianas Mutter Ana zeugt, darauf folgt unmittelbar vor der Hochzeit ebendiese Ana, den gespenstischen Abschluß macht deren Tochter Mariana, und zwar kurz nachdem sie ihren fünften Geburtstag gefeiert hat. In den nachfolgenden Generationen tobt sich die männliche Gewalttätigkeit eher auf Schlachtfeldern außerhalb des Hauses aus, ob sich nun die Anhänger der portugiesischen Krone mit den Verfechtern der Unabhängigkeit, die Monarchisten mit den Republikanern oder die Brasilianer mit den Paraguayern bekriegen. Dabei wird der Leser durch die Epochen der brasilianischen Geschichte geleitet.
Im historischen Roman ist es Sitte, daß die Ereignisse, welche den fiktiven Figuren zustoßen, den Vordergrund beanspruchen, während die dokumentarisch verbürgten Gestalten als Fixsterne der Wirklichkeit am Horizont der Erzählwelt aufblitzen. In der Ferne tritt der barocke Jesuitenprediger Antônio Vieira wortmächtig für die Rechte der Indianer ein; in der Ferne reformiert der Marquês de Pombal mit eiserner Hand die marode portugiesische Verwaltung und vertreibt im Namen der Aufklärung die Jesuiten; und auch in der Ferne intrigiert man bei Hofe, während im Palmenhaus die Tischgesellschaft politisiert und die Auswirkungen der fernen Ereignisse auf das Naheliegende, also zum Beispiel die Rinderpreise, abzuschätzen sucht.
Der Autor entwirft sein Vexierbild aus Wirklichem und Erfundenem bereits in einer Vorbemerkung, die das Werk für die Fiktion beansprucht und es doch mit Verweisen auf ethnologische, geographische oder wirtschaftsgeschichtliche Abhandlungen in der Realität verankert. Wohl um die Illusionsbildung der deutschen Leser und das Vergnügen an exotischen Reizen nicht durch unnötiges Nachdenken einzuschränken, wurde in der Übersetzung dieser Vorspann an den Schluß geschoben.
Nun mag der Nordosten Brasiliens in vieler Hinsicht eine wilde Gegend sein, literarisch blieb er nicht unbeackert. Nascimento Silva beruft sich auf das 1902 erschienene Vorbild "Krieg im Sertão" von Euclides da Cunha. Doch "Das Palmenhaus" endet nicht nur ein Jahrzehnt vor dem Aufstand, den da Cunha beschreibt, der Nachfolger peilt auch ein anderes Verhältnis zur dargestellten Wirklichkeit an: Während der Positivist des neunzehnten Jahrhunderts auf die eigene Beobachtung und Erfahrung pocht, geht Nascimento Silva ins Archiv und benutzt die Aufzeichnungen anderer als Rohmaterial für ein "Gemälde", das im Gegensatz zu dem des Vorgängers der zeitgenössischen Wissenschaft widerspricht.
So bewirken Bartholomeus inzestuöse und magische Rituale, daß seine weiblichen Nachkommen mit dem zweiten Gesicht begabt sind, fremde Gedanken lesen und gelegentlich ihren Körper verlassen können, um andere Familienmitglieder vor Gefahr zu retten. Zwar läßt sich über die Berechtigung des Wunderbaren im Roman trefflich rechten und ist von Torquato Tasso bis Alejo Carpentier oft gestritten worden; nur kämpft der Autor des "Palmenhauses" offensichtlich mit der Schwierigkeit, magischen, historischen und psychologischen Realismus miteinander zu vermitteln.
Schließlich ist die Hellseherei der Tod jeder auf Zeichendeutung beruhenden Seelenkunde. Wenn ich die Empfindungen meines Gegenübers unmittelbar "sehe", dann brauche ich nicht erst mühsam die Symptome zu lesen und meine Schlußfolgerungen zu ziehen. Die nachträgliche Motivierung des Übernatürlichen deckt nur das Dilemma des Autors auf: "Wie ich gesagt habe, der Teufel fährt nur in uns ein, wenn wir es zulassen."
Ähnliches gilt für die eher pastos ausgeführten erotischen Szenen. Die Mitteilung anatomischer Details führt nicht unbedingt dazu, daß es im Kopf des Lesers knistert. Mehrmals beschwören an Kapitelanfängen plazierte Motti aus Stendhal ein schriftstellerisches Konkurrenzverhältnis. Doch in "Rot und Schwarz" war die erste Vereinigung von Julien Sorel und Madame de Rênal zwischen zwei Absätze des Textes gerutscht; erst durch den ironischen Kommentar des Erzählers erriet man, was in der Nacht passiert war. In der Seeschlacht gegen Stendhal um die Hoheit auf dem Meer der Geschichten erleidet Nascimento Silva ehrenvollen Schiffbruch. MAX GROSSE
Carlos Nascimento Silva: "Das Palmenhaus". Aus dem Brasilianischen übersetzt von Ute Hermanns und Fanny Esterházy. Europaverlag, München/Wien 1998. 640 S., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einen etwas anderen Anblick bietet dagegen die vor drei Jahren veröffentlichte brasilianische Originalausgabe. Den beigefarbenen Einband ziert die Rötelzeichnung einer jungen Frau mit altmodischer Frisur und eigentümlich nach innen gekehrtem Blick; das Porträt ist zwischen zwei stilisierte Palmen in Grau gesetzt. Von amazonischer Farbenfreude also weit und breit keine Spur - den deutschen Verlag scheint nicht weiter gekümmert zu haben, daß das Gebiet um den größten Strom der Erde im Text überhaupt nicht vorkommt. Der Roman spielt im steppenartigen Hinterland der Bundesstaaten Ceará und Pernambuco, dem Sertão; mit dem tropischen Regenwald hat dieser ebensoviel Ähnlichkeit wie die Lüneburger Heide mit dem Altmühltal.
In seinem späten erzählerischen Debüt zeichnet der 1937 geborene Literaturwissenschaftler Carlos Nascimento Silva die Erschließung und Besiedelung der Wildnis am Beispiel eines Gutes und seiner Bewohner nach. Die Romanzeit reicht bis ins späte siebzehnte Jahrhundert zurück, als die Kolonialmacht Portugal den Zenit ihres Einflusses überschritten hatte, und endet 1885, also vier Jahre bevor der brasilianische Kaiser Pedro II. abdankt und die Republik ausgerufen wird. Der Weg des umtriebigen Sodré-Clans führt vom europäischen Mutterland über Afrika in den Nordosten Brasiliens.
Das "Palmenhaus" im Titel meint zugleich ein Gebäude, eine beinahe selbstgenügsame Wirtschaftsgemeinschaft und den Sitz einer Familie, welche ihren Besitz von Generation zu Generation mehrt und weitervererbt. Da sich die Verwandtschaftsverhältnisse am thebanischen Hof zu Zeiten des Königs Ödipus vergleichsweise geradlinig ausnehmen, verlöre man doch sehr schnell den Überblick, wäre dem Roman nicht eine genealogische Schautafel vorangestellt. Der Stammbaum ähnelt weit eher dem Dornengestrüpp der nordöstlichen Hochebenen; durch Inzest und Bigamie verzweigt er sich in alle möglichen Richtungen.
Als Orientierung im Beziehungsdickicht dient die Figur der Mariana Sodré Coutinho. Wir begleiten das lebhafte junge Mädchen bis zu seinem Tod im biblischen Alter von 114 Jahren. Der späteren Matriarchin der Sippe wird nicht nur die fast ungeteilte Aufmerksamkeit des allwissenden Erzählers zuteil, ja sie darf sich sogar dessen Stimme ausborgen. Denn sonst setzt der brasilianische Text die durch Verschleifungen nachlässige Umgangssprache der Charaktere scharf gegen den getrageneren Ton der Erzählerrede ab, was in der Übersetzung weniger ins Auge sticht.
Doch wenn Mariana abends der Mestizin Celeste, der Dienerin und Geliebten, in langen Rückblenden die Taten und Untaten ihres - wie sich allmählich herausstellen wird - gemeinsamen Großvaters Bartholomeu entwickelt, dann klingt sie wie der distanzierte Erzähler, auch wenn sie bemerkt: "Schau, Kleines, du bittest mich um eine Geschichte, und kaum beginne ich sie zu erzählen, merke ich, daß ich längst mittendrin war. Begreifst du, was ich dir sagen will? Es gibt nie einen Schlußpunkt, wir geraten immer tiefer hinein. Es handelt sich ja nicht nur um die Geschichte von Bartholomeu oder Dom Pedro, sondern auch um unsere eigene. Merkst du, wo uns das hinführt?"
Die Karriere des Bartholomeu Sodré führt mit Energie, Ausdauer und einer Portion Skrupellosigkeit, ohne die der Kontinent weder kolonisiert noch die Ureinwohner "befriedet" worden wären, aus ärmlichen Anfängen zu Reichtum und Großgrundbesitz. Allerdings wird der Weg zum Erfolg von den Tränen jener Frauen begossen, die Bartholomeu wie Beutestücke in Besitz nimmt: Er vergewaltigt nicht nur die Indianerin Kura'wá, die den Göttern ihres Stammes geweiht war, sondern behält sich auch zeit seines Lebens vor, alle Frauen der Familie zu entjungfern, aus Rache am Vater.
Zunächst unterwirft er sich seine zarte Halbschwester Maria Candida, mit der er Marianas Mutter Ana zeugt, darauf folgt unmittelbar vor der Hochzeit ebendiese Ana, den gespenstischen Abschluß macht deren Tochter Mariana, und zwar kurz nachdem sie ihren fünften Geburtstag gefeiert hat. In den nachfolgenden Generationen tobt sich die männliche Gewalttätigkeit eher auf Schlachtfeldern außerhalb des Hauses aus, ob sich nun die Anhänger der portugiesischen Krone mit den Verfechtern der Unabhängigkeit, die Monarchisten mit den Republikanern oder die Brasilianer mit den Paraguayern bekriegen. Dabei wird der Leser durch die Epochen der brasilianischen Geschichte geleitet.
Im historischen Roman ist es Sitte, daß die Ereignisse, welche den fiktiven Figuren zustoßen, den Vordergrund beanspruchen, während die dokumentarisch verbürgten Gestalten als Fixsterne der Wirklichkeit am Horizont der Erzählwelt aufblitzen. In der Ferne tritt der barocke Jesuitenprediger Antônio Vieira wortmächtig für die Rechte der Indianer ein; in der Ferne reformiert der Marquês de Pombal mit eiserner Hand die marode portugiesische Verwaltung und vertreibt im Namen der Aufklärung die Jesuiten; und auch in der Ferne intrigiert man bei Hofe, während im Palmenhaus die Tischgesellschaft politisiert und die Auswirkungen der fernen Ereignisse auf das Naheliegende, also zum Beispiel die Rinderpreise, abzuschätzen sucht.
Der Autor entwirft sein Vexierbild aus Wirklichem und Erfundenem bereits in einer Vorbemerkung, die das Werk für die Fiktion beansprucht und es doch mit Verweisen auf ethnologische, geographische oder wirtschaftsgeschichtliche Abhandlungen in der Realität verankert. Wohl um die Illusionsbildung der deutschen Leser und das Vergnügen an exotischen Reizen nicht durch unnötiges Nachdenken einzuschränken, wurde in der Übersetzung dieser Vorspann an den Schluß geschoben.
Nun mag der Nordosten Brasiliens in vieler Hinsicht eine wilde Gegend sein, literarisch blieb er nicht unbeackert. Nascimento Silva beruft sich auf das 1902 erschienene Vorbild "Krieg im Sertão" von Euclides da Cunha. Doch "Das Palmenhaus" endet nicht nur ein Jahrzehnt vor dem Aufstand, den da Cunha beschreibt, der Nachfolger peilt auch ein anderes Verhältnis zur dargestellten Wirklichkeit an: Während der Positivist des neunzehnten Jahrhunderts auf die eigene Beobachtung und Erfahrung pocht, geht Nascimento Silva ins Archiv und benutzt die Aufzeichnungen anderer als Rohmaterial für ein "Gemälde", das im Gegensatz zu dem des Vorgängers der zeitgenössischen Wissenschaft widerspricht.
So bewirken Bartholomeus inzestuöse und magische Rituale, daß seine weiblichen Nachkommen mit dem zweiten Gesicht begabt sind, fremde Gedanken lesen und gelegentlich ihren Körper verlassen können, um andere Familienmitglieder vor Gefahr zu retten. Zwar läßt sich über die Berechtigung des Wunderbaren im Roman trefflich rechten und ist von Torquato Tasso bis Alejo Carpentier oft gestritten worden; nur kämpft der Autor des "Palmenhauses" offensichtlich mit der Schwierigkeit, magischen, historischen und psychologischen Realismus miteinander zu vermitteln.
Schließlich ist die Hellseherei der Tod jeder auf Zeichendeutung beruhenden Seelenkunde. Wenn ich die Empfindungen meines Gegenübers unmittelbar "sehe", dann brauche ich nicht erst mühsam die Symptome zu lesen und meine Schlußfolgerungen zu ziehen. Die nachträgliche Motivierung des Übernatürlichen deckt nur das Dilemma des Autors auf: "Wie ich gesagt habe, der Teufel fährt nur in uns ein, wenn wir es zulassen."
Ähnliches gilt für die eher pastos ausgeführten erotischen Szenen. Die Mitteilung anatomischer Details führt nicht unbedingt dazu, daß es im Kopf des Lesers knistert. Mehrmals beschwören an Kapitelanfängen plazierte Motti aus Stendhal ein schriftstellerisches Konkurrenzverhältnis. Doch in "Rot und Schwarz" war die erste Vereinigung von Julien Sorel und Madame de Rênal zwischen zwei Absätze des Textes gerutscht; erst durch den ironischen Kommentar des Erzählers erriet man, was in der Nacht passiert war. In der Seeschlacht gegen Stendhal um die Hoheit auf dem Meer der Geschichten erleidet Nascimento Silva ehrenvollen Schiffbruch. MAX GROSSE
Carlos Nascimento Silva: "Das Palmenhaus". Aus dem Brasilianischen übersetzt von Ute Hermanns und Fanny Esterházy. Europaverlag, München/Wien 1998. 640 S., geb., 44,- DM.
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