seiner Heimat an der russischen Kultur eintrat, die er als Bindeglied zu Europa ansah.
Dafür focht auch der moderne kasachische Klassiker Ilijas Shansugirow (1894 bis 1938), der in Moskau studierte, ebenfalls russische Literatur übersetzte und außerdem einheimische Volksdichtung aufzeichnete. Shansugirows Meisterwerk ist das Versepos "Kulager", das am Beispiel eines historischen Sängers und des tragischen Verlusts seines Pferdes den Versuch schildert, der repressiven Stammesgesellschaft zu entkommen. Kurz nach der Publikation fiel der Autor, der den kasachischen Schriftstellerverband mitbegründet hatte, dem stalinistischen Terror zum Opfer. Alle "Kulager"Ausgaben wurden vernichtet - bis auf ein Exemplar, das ein Schriftstellerkollege in einem Kissen versteckte und so den Text für die Nachwelt rettete. Dank der Initiative der Leiterin des Goethe-Instituts in Kasachstan, Barbara von Münchhausen, ist das Gedicht, das Naturlyrik und Sozialsatire mit großem dramatischen Atem verbindet, nun in einer ebenso sorgfältigen wie poetischen Übertragung von Gert Heidenreich für deutsche Leser zugänglich.
Shansugirows Erzähler stimmt sich ein, indem er die Schönheit seiner Heimat besingt, die erhabenen Berge, klaren Seen, seidigen Auen. Wie vor ihm Anton Tschechow nimmt er die Natur zum Maßstab, an deren Lauterkeit er mit seinem Schreiben heranreichen will. Dem Volk aufs Maul schauen, eitles Geschwätz meiden, das ist sein Imperativ. Was die Gesellschaft, wie er weiß, mit Neid und Verleumdung belohne, weshalb er sich den früh im Duell gefallenen Dichtern Puschkin und Lermontow verwandt fühlt. Sein Held, der Sängerpoet Akan Seri (1843 bis 1913), entstammt einer wohlhabenden Familie, erlernt Sprachen und Musik und wird ein Kultsänger seiner Zeit. Doch da seine große Liebe dem Steppenbrauch gemäß einem reichen Bai versprochen ward, zieht er sich in die Bergeinsamkeit zurück, wo er sich der Jagd und seiner Kunst widmet und berühmt gewordene Liebeslieder komponiert.
Dieses Dichterdasein gleicht einer gelebten Utopie. Die Flügel seiner poetischen Mission tragen den von Klanrücksichten befreiten Akan zu neuen Gipfeln seiner Schaffenskraft. Was freilich nur möglich ist dank dem Pferd Kulager, dessen pfeilschneller Lauf seinem Reiter suggeriert, er fliege tatsächlich. Das Pferd ist der BMW der Steppe, es erschließt die Weite erst. Zu Pferd hütet man Vieh, erledigt Geschäfte, wirbt um die Geliebte. Ohne Pferd komme der Kasache sich arm und entwurzelt vor, bezeugt auch der deutsche Tierforscher Alfred Edmund Brehm, der in jener Zeit Nordkasachstan bereiste.
Akans Kulager versinnbildlicht obendrein die urwüchsige Heimat. Im Unterschied zu vielen anderen Pferden, die sich auf dem großen Gedenkfest zu Ehren eines verstorbenen Bai im Rennen messen, fließt kein arabisches, englisches, turkmenisches oder deutsches Blut in seinen Adern; er ist weder schön noch feurig, doch in Schnelligkeit und Ausdauer unschlagbar, wie ein alter Pferdekenner, an einer Schlüsselstelle Kulagers Körperbau durchbuchstabierend, erklärt. Wenn dieses Tier gegen die edlen Renner der Stammeshäupter antritt, liegt darin eine Provokation. Mit seinem Sieg würde ein Niemand aus den Bergen, der obendrein jung, schön und ein freier Dichter ist, die hässlichen Machtmenschen, deren Fresssucht und Wichtigtuerei drastisch beschrieben werden, empfindlich demütigen.
Der naive Musensohn aber ist dafür blind. Stolz weist er das Kaufangebot seines Hauptkonkurrenten zurück. Es wirkt symbolisch, dass er seinem Pferd vor dem Start noch den Talisman abnimmt. So kommt es zur Katastrophe. In dem Moment, da Kulager sich anschickt, die Führung des Rennens zu übernehmen, trifft ihn der Axthieb eines gedungenen Attentäters tödlich. Das Verbrechen löst einen Tumult aus. Da das Gastrecht verletzt wurde und zu fürchten steht, dass der Dichter schlimme Kunde über ihren Stamm verbreiten wird, sind auch Klanangehörige des Auftraggebers über die Untat empört. Doch der vertritt die "dunkle Macht", wie das entsprechende Kapitel, gleichsam auf den "Krieg der Sterne" vorausweisend, überschrieben ist. Er hat Bewaffnete unter sich, auf seine Drohungen hin verzieht sich die Menge. Akan bleibt als gebrochener Mann zurück. Er trennt den Kopf seines toten Freundes vom Körper, nimmt ihn mit nach Hause und hängt ihn an den Baum, unter dem er fortan immer sitzt.
Und während er sein Klagelied um Kulager singt, altert Akan fast so schnell, wie dessen Kopf verwest. Dafür leben beide mitsamt Ilijas Shansugirow fort in dieser Dichtung, deren verzauberte Hörer dem einstigen politischen Sieger die Verdammnis an den Hals wünschen.
Ilijas Shansugirow: "Das Lied von Kulager". Eine Nachdichtung von Gert Heidenreich.
Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2016. 144 S., 1 Audio-CD, geb., 25,- [Euro].
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