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Kurt Flasch / Udo Reinhold Jeck (Hgg.)
Broschiertes Buch
Das Licht der Vernunft
Die Anfänge der Aufklärung im Mittelalter
Mitarbeit: Flasch, Kurt; Jeck, Udo R.
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Man verkennt das Mittelalter, wenn man es als Gegensatz zur Aufklärung stilisiert. Die Aufklärung hatte Wurzeln im Mittelalter. Die Beiträge dieses Bandes sind von international bekannten Fachleuten verfasst und behandeln allgemeinverständlich die Ansätze zu einer rationalen Erforschung der Welt im Mittelalter. Der Band ist eine gut lesbare Einführung in die mittelalterliche Philosophie und Wissenschaft.
Kurt Flasch, geboren 1930 in Mainz, studierte Philosophie, Geschichte, Gräzistik und Germanistik in Bonn und Frankfurt, wo er 1956 promovierte und 1969 habilitierte. Von 1970 bis 1995 war er Ordinarius für Philosophie im Philosophischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Darüber hinaus hielt er zahlreiche Gastvorlesungen, u.a. an der Sorbonne in Paris. Kurt Flasch verfasste zahlreiche Publikationen und wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, u.a. dem "Sigmund-Freud-Preis" für wissenschaftliche Prosa (2000) der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, dem "Hannah- Arendt-Preis" (2009) und dem "Joseph-Breitbach-Preis" (2012).
Produktdetails
- Verlag: Beck
- 1997.
- Seitenzahl: 191
- Deutsch
- Abmessung: 205mm
- Gewicht: 248g
- ISBN-13: 9783406423109
- ISBN-10: 3406423108
- Artikelnr.: 06758870
Herstellerkennzeichnung
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Und es hat Bumm gemacht
Kurt Flasch läßt aufklären: Die ketzerische Moderne begann schon im mönchischen Mittelalter
Jede Gesellschaft bringt die Mythen hervor, die sie braucht. Sie bedarf ihrer aus mancherlei Gründen, zur Selbstvergewisserung, zur Abwehr feindlicher Kräfte, zur Legitimation. Den Stoff liefert die Geschichte. So geriet auch das "Mittelalter" zum Geburts- und Lebensmythos einer "Neuzeit", deren Legitimität sich aus der Opposition gegen dasselbe herleitete. Alles Frühere sah sich in eine unmündige, in geistiger Enge und Düsternis dahinschmachtende, in Feudalordnung, Klostermauern, Glaubens- und Kultgebote eingezwängte Vorzeit verstoßen. Vier, fünf Jahrhunderte spannen den Mythos fort. Allenthalben
Kurt Flasch läßt aufklären: Die ketzerische Moderne begann schon im mönchischen Mittelalter
Jede Gesellschaft bringt die Mythen hervor, die sie braucht. Sie bedarf ihrer aus mancherlei Gründen, zur Selbstvergewisserung, zur Abwehr feindlicher Kräfte, zur Legitimation. Den Stoff liefert die Geschichte. So geriet auch das "Mittelalter" zum Geburts- und Lebensmythos einer "Neuzeit", deren Legitimität sich aus der Opposition gegen dasselbe herleitete. Alles Frühere sah sich in eine unmündige, in geistiger Enge und Düsternis dahinschmachtende, in Feudalordnung, Klostermauern, Glaubens- und Kultgebote eingezwängte Vorzeit verstoßen. Vier, fünf Jahrhunderte spannen den Mythos fort. Allenthalben
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konnte er einwurzeln. Das Mittelalter erschien nun als der finstere Ort, als antiaufklärerische Hölle gleichsam, der jegliche Leuchtkraft der Vernunft und des Denkens fehlte und in die alle Gegner - tote wie lebende, fiktive wie reale - eingewiesen werden konnten. Alsbald verfinsterte sich ein ganzes Jahrtausend, allenfalls noch von den lodernden Scheiterhaufen für Ketzer und Hexen beleuchtet.
Das Szenario schreckte freilich nicht nur, es zog an. Es kam, wie es häufig geschieht: Die Opfer übernahmen die fremde Vision, verklärten den Mythos und entdeckten sich in der einen, von der Einheit des Glaubens geordneten Welt wieder, die widergöttliches Wissen, theoretische Neugier, kalte Vernunftschlüsse abgewehrt hatte und in der die Menschheit, unmündigen, doch glücklichen Kindern gleich, durch Offenbarung und Wunder geleitet, den rechten Weg ging. Bald Hölle, bald Seligkeit - fortan gab es, von Spezialisten abgesehen, niemanden mehr, den dieses Mittelalterbild anfocht. Es wandelte sich zum Klischee; und dieses blieb fest im allgemeinen Wissen verwurzelt, weithin gültig bis heute.
Die Zeit ist reif für ein anderes Bild, das statt der Klischees lebendige Menschen zeigt, die ihren Leidenschaften folgten, vernünftig zu handeln wußten und nicht zuletzt - rational dachten. Die traditionellen Mythen der Geschichtsschreibung dürfen getrost vergessen werden. Das ist die wichtigste Botschaft des hier besprochenen Bandes. Das Mittelalter war keine Epoche eines massiven Gegensatzes von Glaube und Vernunft, so betont Alain de Libera, einer der Autoren, vielmehr "ein Zeitalter der extremen Rationalisierung", eine Epoche der "Begegnung von logischer Rationalität und theologischer Sinnsuche"; eine Zeit der Aufklärung, die sich derselben Mittel zu bedienen wußte wie jene neuzeitliche, der Vernunft nämlich als des Höchsten im Menschen, als der Richterin über alles, was es sonst noch im Menschen gibt, wie Kurt Flasch in Anlehnung an Anselm von Canterbury zu bedenken gibt.
Endlich war das Mittelalter auch eine Zeit, die jene wissenschaftliche Maxime formulierte, der sich die künftigen Jahrhunderte bis heute beugen: daß nämlich nichts zu glauben sei, das nicht evident sei oder aus Evidentem entwickelt werden könne. Denn: "Die Reden des Theologen sind in Fabeln begründet", und "das theologische Wissen bringt keinen Erkenntnisgewinn", wie es in den im Jahr 1277 durch den Pariser Bischof Etienne Tempier verurteilten Theoremen heißt.
Ein Bild vom Mittelalter also, das den Vergleich mit der Aufklärung nicht zu scheuen braucht, in dem erkenntnistheoretische Gleichstellung der Religionen sich begründet, säkularisiertes Erkennen und religiöse Skepsis sich ausbreiten und Leichen zum Fortschritt der Medizin vor Studenten im "Theatrum anatomicum" seziert werden. Gott verflüchtigt sich hier zur Funktion des ersten Bewegers, wird als der hinter den Naturgesetzen stehende Verstand begriffen, dessen willkürgesättigte Allmacht zu schwinden beginnt und der ein freies Ich zur Ursache haben kann. Ja: "Gott ist tot" steht bereits in der Exempelsammlung der "Gesta Romanorum" geschrieben, worauf Olaf Pluta den Finger legt.
Die neue Sicht des Mittelalters ist möglich geworden durch die konsequente Betrachtung der Geschichte der Vernunft, ihres Gebrauchs und ihrer Manifestationen in den Wissenschaften, Künsten und für die Gesellschaft. Die vornehmste Leitdisziplin war dabei die Logik. Bis ins zwölfte Jahrhundert diente sie, so noch einmal de Libera, allein dem theologischen Ziel, "eine Semantik der Trinität zu etablieren". "Dann, plötzlich, explodiert alles." Eine "Umwälzung" innerhalb der christlichen Wissenschaft erfolgte, an der die griechisch-byzantinischen und die arabischen Lehrmeister des Abendlandes nicht mehr teilhatten, die fortan alles Wissen, selbst das Wissen von Gott, vor den Richterstuhl von Logik, Dialektik und Sprachlogik zitierte, ja, ganz neue Logiken zu entwickeln in der Lage war. Die Universitäten schufen den institutionellen Rahmen.
Den Folgen dieses Umbruchs gehen die im vorliegenden Sammelband vereinten fünfzehn Aufsätze aus der Feder ausgewiesener Kenner nach. Sie entstanden 1994 als Sendereihe im "Deutschland-Radio" und richten sich an ein Publikum, das keineswegs mit der Spezialforschung vertraut zu sein braucht, um folgen zu können. Reichhaltige Kost wird geboten, in essayistischer Form und unterschiedlicher Konsistenz. Der aufklärerische Impetus wird in Philosophie und Theologie, in der Medizin, in der Magie und Alchemie aufgespürt, der prägende Einfluß jüdischer und arabischer Gelehrter gewürdigt.
Moses Maimonides eröffnet die Einzelstudien. Friedrich Niewöhner attestiert ihm ein doppeltes Aufklärungsprogramm, deren eines religiös in der praktischen Zusammenstellung aller 613 Ge- und Verbote der Thora zur "Mischneh Thora" zu fassen sei; deren anderes im philosophisch-theologischen Hauptwerk des Moses, dem "Führer der Unschlüssigen" (oder "der Verwirrten"), vorliege. Bald ins Lateinische übersetzt, übte es nachhaltigen Einfluß auf die Spätscholastik sowie auf die jüdische Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts aus.
Charles E. Butterworth setzt sich mit der Lehre von der doppelten Wahrheit, jener für das einfache Volk und jener für die Gelehrten, auseinander, die im Mittelalter fälschlicherweise dem Averroes zugeschrieben worden sei. Peter von Moos unterstreicht die Originalität Abaelards in der Konsequenz seiner Methodik und Intentionsethik. Loris Sturlese würdigt den Rationalismus Alberts des Großen, während Günther Mensching dem aufklärerischen Gehalt im Denken Thomas von Aquins nachgeht. Die Pariser Verurteilung averroistischer Sätze von 1277 (Luca Bianchi), die Rationalisierung der Medizin (Danielle Jacquart), die Aufklärungsleistung durch Magie und Alchemie (Udo Reinhold Jeck) oder durch die politische Theorie eines Marsilius von Padua (Wilfried Kühn) werden skizziert. Und Burkhard Mojsisch analysiert Meister Eckharts Ich-Konzeption, die das Ich zur Ursache für Gott erklärt.
Kurt Flasch entkleidet Boccaccios Ringparabel ihrer Hüllen, um einen skeptisch religiösen Relativismus des Novellisten bloßzulegen. "Wer begriffen hat, für den sind Diskussionen über die Wahrheit der Religion zu Ende" - im vierzehnten Jahrhundert, nicht erst in Lessings "Nathan". Olaf Pluta weist Johannes Buridan anhand seiner Lehren über die Ewigkeit der Welt, die Sterblichkeit der Seele und die Diesseitigkeit des Glücks als mittelalterlichen "Epikureer", das heißt, als konsequenten Materialisten aus. Alexander Murrays Essay läßt die Vernunft sich in der Gesellschaft verbreiten.
Das Ganze ist amüsant und nicht ohne Ironie durch Kurt Flasch eingeleitet. Man wünscht dem gefälligen Band ein breites Publikum, das seiner aufklärerischen Intention aufgeschlossen gegenübertritt und im Bilde vom "finsteren Mittelalter" die Spiegelung einer finsteren Neuzeit entdeckt.
Gleichwohl sind Einseitigkeiten zu bedauern. Die Rolle der Rhetorik im Aufklärungsprozeß bleibt unterbelichtet. Zudem sind die Beiträge wissenschaftsgeschichtlich ganz nach der Universität Paris ausgerichtet, Oxford erscheint wenigstens am Rande; Bologna, überhaupt Italien und damit die Rechtswissenschaften bleiben (von Boccaccios Florenz einmal abgesehen) ausgeklammert, obwohl sie ohne Zweifel Maßgebliches zur Entstehung der Universitäten und zur Rationalisierung der Kultur und der Lebenswelten beigetragen haben. Nicht von ungefähr besuchten Advokaten regelmäßig jene rauchgeschwängerten Salons der Aufklärungszeit, an die Flasch erinnert.
Es fällt auf, daß keiner der Autoren sich auf Thomas Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen einläßt, obwohl die "Explosion" der Logik im zwölften Jahrhundert und die Rationalität der Aufklärung manches Beispiel zum Ausblenden "überholten" Wissens und damit zur Genese des Mythos vom finsteren Mittelalter liefert. Auch bleibt unklar, wie jenes intellektuelle Gemisch zustande kommen konnte, das dann "explodierte", was seine Komponenten waren und ob jenes Klischee für die Zeit vor der großen Explosion - und damit für das halbe Mittelalter - vielleicht doch Gültigkeit beanspruchen dürfe, jene "Mönchsdummheit", die Schiller apostrophierte. Dabei handelt es sich um eine der zentralen Fragen der europäischen Geschichte in welthistorischem Rahmen, nicht ohne Brisanz noch für heute.
Kurios ist nicht zuletzt, wie der Mythos vom frommen, vernunftfernen Mittelalter sich in die Beiträge auch dieses Buches einschleichen konnte. So werden die aufklärerischen Implikationen der Naturforschungen Alberts des Großen durch das Kontrastbild gekennzeichnet: hätte an seiner Stelle "ein frommer Mönch gestanden". Indes, Albert war Mönch und fromm dazu! Das ist ja gerade das Aufregende: daß damals jene, die es nicht gewesen sein sollen, die schlimmsten Aufklärungstäter waren: die frommen Mönche und Kleriker des Mittelalters. JOHANNES FRIED
Kurt Flasch, Udo Reinhold Jeck (Hrsg.): "Das Licht der Vernunft". Die Anfänge der Aufklärung im Mittelalter. Verlag C.H. Beck, München 1997. 191 S., br., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Szenario schreckte freilich nicht nur, es zog an. Es kam, wie es häufig geschieht: Die Opfer übernahmen die fremde Vision, verklärten den Mythos und entdeckten sich in der einen, von der Einheit des Glaubens geordneten Welt wieder, die widergöttliches Wissen, theoretische Neugier, kalte Vernunftschlüsse abgewehrt hatte und in der die Menschheit, unmündigen, doch glücklichen Kindern gleich, durch Offenbarung und Wunder geleitet, den rechten Weg ging. Bald Hölle, bald Seligkeit - fortan gab es, von Spezialisten abgesehen, niemanden mehr, den dieses Mittelalterbild anfocht. Es wandelte sich zum Klischee; und dieses blieb fest im allgemeinen Wissen verwurzelt, weithin gültig bis heute.
Die Zeit ist reif für ein anderes Bild, das statt der Klischees lebendige Menschen zeigt, die ihren Leidenschaften folgten, vernünftig zu handeln wußten und nicht zuletzt - rational dachten. Die traditionellen Mythen der Geschichtsschreibung dürfen getrost vergessen werden. Das ist die wichtigste Botschaft des hier besprochenen Bandes. Das Mittelalter war keine Epoche eines massiven Gegensatzes von Glaube und Vernunft, so betont Alain de Libera, einer der Autoren, vielmehr "ein Zeitalter der extremen Rationalisierung", eine Epoche der "Begegnung von logischer Rationalität und theologischer Sinnsuche"; eine Zeit der Aufklärung, die sich derselben Mittel zu bedienen wußte wie jene neuzeitliche, der Vernunft nämlich als des Höchsten im Menschen, als der Richterin über alles, was es sonst noch im Menschen gibt, wie Kurt Flasch in Anlehnung an Anselm von Canterbury zu bedenken gibt.
Endlich war das Mittelalter auch eine Zeit, die jene wissenschaftliche Maxime formulierte, der sich die künftigen Jahrhunderte bis heute beugen: daß nämlich nichts zu glauben sei, das nicht evident sei oder aus Evidentem entwickelt werden könne. Denn: "Die Reden des Theologen sind in Fabeln begründet", und "das theologische Wissen bringt keinen Erkenntnisgewinn", wie es in den im Jahr 1277 durch den Pariser Bischof Etienne Tempier verurteilten Theoremen heißt.
Ein Bild vom Mittelalter also, das den Vergleich mit der Aufklärung nicht zu scheuen braucht, in dem erkenntnistheoretische Gleichstellung der Religionen sich begründet, säkularisiertes Erkennen und religiöse Skepsis sich ausbreiten und Leichen zum Fortschritt der Medizin vor Studenten im "Theatrum anatomicum" seziert werden. Gott verflüchtigt sich hier zur Funktion des ersten Bewegers, wird als der hinter den Naturgesetzen stehende Verstand begriffen, dessen willkürgesättigte Allmacht zu schwinden beginnt und der ein freies Ich zur Ursache haben kann. Ja: "Gott ist tot" steht bereits in der Exempelsammlung der "Gesta Romanorum" geschrieben, worauf Olaf Pluta den Finger legt.
Die neue Sicht des Mittelalters ist möglich geworden durch die konsequente Betrachtung der Geschichte der Vernunft, ihres Gebrauchs und ihrer Manifestationen in den Wissenschaften, Künsten und für die Gesellschaft. Die vornehmste Leitdisziplin war dabei die Logik. Bis ins zwölfte Jahrhundert diente sie, so noch einmal de Libera, allein dem theologischen Ziel, "eine Semantik der Trinität zu etablieren". "Dann, plötzlich, explodiert alles." Eine "Umwälzung" innerhalb der christlichen Wissenschaft erfolgte, an der die griechisch-byzantinischen und die arabischen Lehrmeister des Abendlandes nicht mehr teilhatten, die fortan alles Wissen, selbst das Wissen von Gott, vor den Richterstuhl von Logik, Dialektik und Sprachlogik zitierte, ja, ganz neue Logiken zu entwickeln in der Lage war. Die Universitäten schufen den institutionellen Rahmen.
Den Folgen dieses Umbruchs gehen die im vorliegenden Sammelband vereinten fünfzehn Aufsätze aus der Feder ausgewiesener Kenner nach. Sie entstanden 1994 als Sendereihe im "Deutschland-Radio" und richten sich an ein Publikum, das keineswegs mit der Spezialforschung vertraut zu sein braucht, um folgen zu können. Reichhaltige Kost wird geboten, in essayistischer Form und unterschiedlicher Konsistenz. Der aufklärerische Impetus wird in Philosophie und Theologie, in der Medizin, in der Magie und Alchemie aufgespürt, der prägende Einfluß jüdischer und arabischer Gelehrter gewürdigt.
Moses Maimonides eröffnet die Einzelstudien. Friedrich Niewöhner attestiert ihm ein doppeltes Aufklärungsprogramm, deren eines religiös in der praktischen Zusammenstellung aller 613 Ge- und Verbote der Thora zur "Mischneh Thora" zu fassen sei; deren anderes im philosophisch-theologischen Hauptwerk des Moses, dem "Führer der Unschlüssigen" (oder "der Verwirrten"), vorliege. Bald ins Lateinische übersetzt, übte es nachhaltigen Einfluß auf die Spätscholastik sowie auf die jüdische Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts aus.
Charles E. Butterworth setzt sich mit der Lehre von der doppelten Wahrheit, jener für das einfache Volk und jener für die Gelehrten, auseinander, die im Mittelalter fälschlicherweise dem Averroes zugeschrieben worden sei. Peter von Moos unterstreicht die Originalität Abaelards in der Konsequenz seiner Methodik und Intentionsethik. Loris Sturlese würdigt den Rationalismus Alberts des Großen, während Günther Mensching dem aufklärerischen Gehalt im Denken Thomas von Aquins nachgeht. Die Pariser Verurteilung averroistischer Sätze von 1277 (Luca Bianchi), die Rationalisierung der Medizin (Danielle Jacquart), die Aufklärungsleistung durch Magie und Alchemie (Udo Reinhold Jeck) oder durch die politische Theorie eines Marsilius von Padua (Wilfried Kühn) werden skizziert. Und Burkhard Mojsisch analysiert Meister Eckharts Ich-Konzeption, die das Ich zur Ursache für Gott erklärt.
Kurt Flasch entkleidet Boccaccios Ringparabel ihrer Hüllen, um einen skeptisch religiösen Relativismus des Novellisten bloßzulegen. "Wer begriffen hat, für den sind Diskussionen über die Wahrheit der Religion zu Ende" - im vierzehnten Jahrhundert, nicht erst in Lessings "Nathan". Olaf Pluta weist Johannes Buridan anhand seiner Lehren über die Ewigkeit der Welt, die Sterblichkeit der Seele und die Diesseitigkeit des Glücks als mittelalterlichen "Epikureer", das heißt, als konsequenten Materialisten aus. Alexander Murrays Essay läßt die Vernunft sich in der Gesellschaft verbreiten.
Das Ganze ist amüsant und nicht ohne Ironie durch Kurt Flasch eingeleitet. Man wünscht dem gefälligen Band ein breites Publikum, das seiner aufklärerischen Intention aufgeschlossen gegenübertritt und im Bilde vom "finsteren Mittelalter" die Spiegelung einer finsteren Neuzeit entdeckt.
Gleichwohl sind Einseitigkeiten zu bedauern. Die Rolle der Rhetorik im Aufklärungsprozeß bleibt unterbelichtet. Zudem sind die Beiträge wissenschaftsgeschichtlich ganz nach der Universität Paris ausgerichtet, Oxford erscheint wenigstens am Rande; Bologna, überhaupt Italien und damit die Rechtswissenschaften bleiben (von Boccaccios Florenz einmal abgesehen) ausgeklammert, obwohl sie ohne Zweifel Maßgebliches zur Entstehung der Universitäten und zur Rationalisierung der Kultur und der Lebenswelten beigetragen haben. Nicht von ungefähr besuchten Advokaten regelmäßig jene rauchgeschwängerten Salons der Aufklärungszeit, an die Flasch erinnert.
Es fällt auf, daß keiner der Autoren sich auf Thomas Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen einläßt, obwohl die "Explosion" der Logik im zwölften Jahrhundert und die Rationalität der Aufklärung manches Beispiel zum Ausblenden "überholten" Wissens und damit zur Genese des Mythos vom finsteren Mittelalter liefert. Auch bleibt unklar, wie jenes intellektuelle Gemisch zustande kommen konnte, das dann "explodierte", was seine Komponenten waren und ob jenes Klischee für die Zeit vor der großen Explosion - und damit für das halbe Mittelalter - vielleicht doch Gültigkeit beanspruchen dürfe, jene "Mönchsdummheit", die Schiller apostrophierte. Dabei handelt es sich um eine der zentralen Fragen der europäischen Geschichte in welthistorischem Rahmen, nicht ohne Brisanz noch für heute.
Kurios ist nicht zuletzt, wie der Mythos vom frommen, vernunftfernen Mittelalter sich in die Beiträge auch dieses Buches einschleichen konnte. So werden die aufklärerischen Implikationen der Naturforschungen Alberts des Großen durch das Kontrastbild gekennzeichnet: hätte an seiner Stelle "ein frommer Mönch gestanden". Indes, Albert war Mönch und fromm dazu! Das ist ja gerade das Aufregende: daß damals jene, die es nicht gewesen sein sollen, die schlimmsten Aufklärungstäter waren: die frommen Mönche und Kleriker des Mittelalters. JOHANNES FRIED
Kurt Flasch, Udo Reinhold Jeck (Hrsg.): "Das Licht der Vernunft". Die Anfänge der Aufklärung im Mittelalter. Verlag C.H. Beck, München 1997. 191 S., br., 34,- DM.
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