vertiefen eine stille Lust ist. Ein ganzes Buch, allein um seine Welt heraufzubeschwören - wie hätte ihm das gefallen! Bilder über Bilder, die seinen Lebensweg illustrieren, über welchem, wie er fest glaubte, eine besondere Vorsehung waltete. Denn immerhin: aus Armut und Gosse aufzusteigen zum Hätschelhans der europäischen Fürstenhöfe - war das nicht Gnade pur? Und ist nicht überhaupt das Leben "das schönste Märchen, denn darin kommen wir selber vor"? Da aber seine Rolle im Lebensmärchen ihn dazu bestimmt hatte, Peter Pan im falschen Körper zu sein, und er "zwar ein großer Mann" wurde, "doch ein ,Mann' wurde er nicht" (Georg Brandes), hielt er sich schadlos, indem er auch in den meisten seiner ausgedachten Märchen die Hauptrolle übernahm. Er ist der Tannenbaum mit den zu hohen Erwartungen, die verzehrend liebende Meerjungfrau, das falsche Entenküken, der arme Konfirmand, das Gänseblümchen und der "fliegende" Ausländer. Und natürlich sowieso der begnadete Einzelgänger, dem Schwefelhölzer und Potpourrivasen ihre Probleme vortragen und der die Seele der Löffel und gestärkten Kragen kennt wie seine eigene.
Jene Zeit, in Dänemark "Goldenes Zeitalter" genannt, schwelgte in Handarbeiten, mit denen man einander zartsinnig bedachte. Jedermann zeichnete, sägte, leimte, schnippelte, stickte und applizierte, aquarellierte oder klebte wenigstens gepreßte Blumen zur Erinnerung auf Grußkarten. Andersen, schon als Kind staunenswert fingerfertig, war ein großer Verschenker solcher nichtgekaufter Dinge.
Sabine Friedrichson kopiert für uns köstliche Stichproben: etwa das seidene Nadelkissen, das der Klippschüler unter Anleitung einer alten Dame nähte, die collagierten Figürchen für sein Puppentheater (das, als Rahmen, halb fertig, auf dem Arbeitstisch des Vaters thront) oder das verschossene Schächtelchen voll papierner Bühnengarderobe der Anziehpuppe Jenny Lind (einem nicht nur von Andersen angehimmelten Superstar mit legendärer Nachtigallstimme) sowie ein gepunztes messingnes Spiegelrähmchen mit hinreißenden Rostflecken, ein rosa Billetdoux, dessen Umrandung irgendeine vergessene Scratch-Kunst präsentiert, und noch jede Menge mehr. Vor allem brillierte Andersen als Silhouettenschneider, egal, was gerade zur Hand war - Gummibaumblätter, Zeitungen oder ein Konzertprogramm -, er schnippelte aus Langeweile, als Tranquilizer, zum Gaudi von Kindern. Darunter auch wahre Kunststückchen aus Gold- und Buntpapier für den Weihnachtsbaum seiner jeweiligen Gastgeber. Neben all diesen "geistesabwesenden, verschlafenen Dingen" wirken die Szenen aus dem Leben Andersens bewohnt, ja beseelt. Es weht durch die meisten Bilder: Luftzug, Wind, Böen lassen die buntkarierten Bettbezüge an der Leine flattern, treiben den Rauch aus den Armeleuteschornsteinen in eine bestimmte Richtung, und die Papierpüppchen am Tannenbaum scheinen in der Hitze der Kerzen zu flirren, während der Qualm der glühenden Lava auf dem Vesuv in Schwaden seitwärts wölkt. Es wechselt das Licht: Sonne leckt an der gemalten Landschaft auf einer geöffneten Tür, indes das Hausinnere finster wie ein Dachsbau bleibt; Vollmond füllet wieder, hier allerdings eine Kopenhagener Vedute samt Dachkammer still mit weißem Glanz.
Und sonst? Blätter: Petersilie trifft Märchenbuch und wärmt Erinnerungen auf an frühe Kinderjahre, winzige Walderdbeeren sind auf einen Grashalm gefädelt, am scharfen Rand einer uralten Fotoplatte könnte man sich allein durchs Hingucken schneiden, und in die papiernen Soffitten eines kleinen Tischtheaterchens späht ein Gesicht, von dem der Eigentümer fand, es sähe "wie ein abgeblätterter Nußknacker aus". Hier nicht.
Vor Bewunderung der präzisen Zärtlichkeit, mit der uns Sabine Friedrichson den Dichter in ihren Bildern nahebringt, übersieht man fast, daß die Textzusammenstellung, an der Hans-Joachim Gelberg mitwirkte, mit ebenso großer Sorgfalt und Liebe geschah. Wir lesen hauptsächlich Auszüge aus Andersens zahlreichen Briefen und Tagebüchern, gelegentlich leitet ein kursiv gesetzter Abschnitt klug zum nächsten Thema über. So ist eine Collage entstanden, die uns das Andersen-Märchen in seinen eigenen Worten erzählt, aber nicht erschöpfend. Sie macht Lust auf Fortsetzung, im Lesen wie im Leben.
KARLA SCHNEIDER
Sabine Friedrichson/Hans Christian Andersen: "Das Leben ist das schönste Märchen, denn darin kommen wir selber vor". Beltz & Gelberg, Weinheim 2005, 48 S., 19,90 [Euro]. Ab 6 J. und für jedes Alter.
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