Realismus seiner Beschreibungen lässt keinen Zweifel zu: Sie sind keineswegs Auswürfe einer sadistischen Phantasie, sondern Ergebnis genauer Beobachtungen.
In seinem letzten Roman, auf deutsch "In anderen Herzen", beschrieb er das Leben einer Großfamilie in Kalkutta (F.A.Z. vom 13. April 2016) mit demselben harten, vielleicht bösen, Blick für die kleinen Grausamkeiten des alltäglichen Lebens. Immerhin gab es zum Schluss eine positive Figur, einen begabten Jungen, dem es gelingt, sich den Fangarmen der Familie zu entwinden und in Amerika eine Existenz aufzubauen. Im neuen Roman von Mukherjee findet sich ein solcher Lichtblick nur auf den letzten dreißig Seiten des vierten Abschnitts. Binay rettet da die Hausangestellte Milly, die von der Familie in Bombay, für die sie arbeitet, in deren Wohnung gefangen gehalten wird. Die beiden heiraten und beginnen in einem Slum ein entbehrungsreiches, aber immerhin sinnvolles Leben, das vor allem den Ausblick auf eine bessere Zukunft ihrer Kinder zulässt. Bleibt von der "modernen indischen Gesellschaft", die der Klappentext verspricht, nur dieser dünne Lichtblick?
Mukherjees Buch besteht aus fünf numerierten Erzählungen, die keinen Bezug zueinander haben, im Grunde ist es also gar kein Roman. Nur Milly taucht in "Zwei" und in "Vier" auf. Der erste Teil beschreibt die Bemühung eines indischen Vaters, der in Amerika wohnt, seinem Sohn den Taj Mahal und andere historische Gebäude in Agra zu erklären. Seine Gespaltenheit zwischen der Erinnerung an die Jugend in Kalkutta und den Ansprüchen des wohlhabenden Auslandsinders lässt ihn zu "einem Touristen in seinem eigenen Land" werden. Vater und Sohn werden ängstlich, als ein Unbekannter sie verfolgt. Die Bedrohung erschüttert den Jungen so heftig, dass er stirbt.
Die Kapitel zwei bis vier sind Kurzromane aus unterschiedlichen Milieus. In "Zwei", in einem Haushalt der Mittelschicht angesiedelt, dreht es sich ums gute Essen. Der Sohn, der in London arbeitet, kehrt zu seinen Eltern nach Bombay zurück, die ihn verwöhnen. Milly und Renu, die beiden Köchinnen, tragen einen zänkischen Wettstreit miteinander aus, wer den Ansprüchen des Sohnes besser genüge. Die Klassenunterschiede, die Arroganz der "Herrschaft", die Ausbeutung des Personals, die Bemühungen des Sohnes, der "westlich" empfindet, um Wahrung von Menschenwürde und eines freundlichen Umgangstons - die Mutter nennt es "Gleichheitsquatsch" - diese Themen werden durchdekliniert, ohne dass sich eine menschliche Entwicklung abzeichnet.
Kapitel drei spielt in einem armen Dorf des Himalaja. Dorthin hat sich ein Bärenjunges verirrt, das der Bauer Lakshman aufzieht in der Hoffnung, es zum Tanzbär abzurichten und so eine Menge Geld zu verdienen. Mukherjee beschreibt, wie sich der Frust über die ausweglose Armut in gewalttätiger Grausamkeit gegenüber dem Tier, der Frau und ihren Kindern entlädt. Die Erzählung mäandert unstrukturiert von einer Verbitterung zur anderen. Als der Bär schließlich ein paar Scheine Verdienst einbringt, verwandelt ein prasselnder Regen sie zu Brei.
Das vierte Kapitel, literarisch das bemerkenswerteste, führt in das von maoistischen Untergrundkämpfern verunsicherte Milieu eines mittelindischen Dorfes. Der Autor kennt sich aus: Die Operationen der Milizen sind genau dargestellt. Von den beiden Freundinnen Milly und Soni schließt sich die Letztere der "Partei" an, während Milly den Ausweg zu den Haushalten der Reichen sucht, sich ausbeuten, schlagen und erniedrigen lässt, bis sie ihren Befreier Binay findet. Das knappe fünfte Kapitel, in Stil und Inhalt isoliert, meditiert in einer Art innerem Monolog die existentielle, trostlose Lebenssituation eines Arbeiters.
In dem früheren Roman waren die Präzision der Sprache wie auch der Übersetzung bemerkenswert. Im neuen Buch dagegen bleiben viele Passagen schwammig. Immer wieder gleitet die Sprache ohne Zweck auf die Ebene des Umgangstons ab und begnügt sich mit Füllwörtern. Die Übersetzung leistet sich Schnitzer wie "das hoffnungslose Los" oder "altbackene chapati", wenn vertrocknete chapati (Brotfladen) gemeint sind.
Wem kann man das Buch empfehlen? Wer emotionale Verhärtung und Niedertracht studieren möchte, wird reichlich Material finden. Wer die Dynamik menschlicher Entwicklungen sucht, ist enttäuscht.
MARTIN KÄMPCHEN
Neel Mukherjee: "Das
Leben in einem Atemzug".
Roman.
Aus dem Englischen von
Giovanni und Ditte Bandini.
Verlag Antje Kunstmann, München 2018. 348 S., geb., 24,- [Euro].
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