Bemühungen, "alte" Verfahren der Zubereitung von Lebensmitteln - wie Fermentierungen oder Garungen über offenem Feuer - wiederzubeleben, was dann als Rückkehr zu einem riesigen Fundus von Möglichkeiten gesehen wird.
Bekommen wir für solche Folgerungen überhaupt genügend historische Informationen? Nicht wirklich. De facto sind alte Rezepte äußerst knapp formuliert. Es gibt kaum jemals Mengenangaben, und wir erfahren so gut wie nichts über die Produkte, ihre Herkunft und Verarbeitung, nichts über die Art der Hitze und wie man mit ihr umgeht und schon gar nichts über den Geschmack eines Gerichtes. Alte Rezepte (und "alt" gilt in diesem Sinne auch schon in vielen Teilen für Auguste Escoffier, 1846-1935) sind im Grunde ein Blackbox-Phänomen. Kann man mit ihnen wirklich mehr anfangen, als sich über auch heute noch kreativ klingende Kombinationen zu freuen? Kann man alte Rezepturen in nachkochbare verwandeln, also die unklaren Variablen sinnvoll reduzieren?
Im neuen Band "Das Kochbuch der Kittin von 1699" geht es um eine schweizerische Handschrift mit 470 Rezepten von Anna Margaretha Gessner, geborene Kitt. Sie wurde 1652 als Kind "einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie" geboren und "heiratete in die angesehene Kaufmannsfamilie Gessner ein". Die Herausgeberinnen nennen die Rezepte "eine fantastische, lebensnahe Quelle, die offenbart, was in einem gutbürgerlichen Haushalt zur Zeit des Barocks auf den Tisch kam". Dazu gibt es eine Reihe wertvoller Anmerkungen zur "Alltags- und Kochkultur" rund um das Jahr 1700.
Zum Erschließen des Inhalts einer solchen Handschrift braucht man im Prinzip verschiedene Stufen. Stufe eins ist am Ende des Buches auf fast siebzig Seiten zu finden, nämlich die Transkription der Handschrift der Kittin, die nicht ohne Probleme zu entschlüsseln ist. Das Ergebnis führt - zum Beispiel unter der Überschrift "Blätzlin vom kalbfleisch zu kochen, so ein gutes zartes essen" - zu Texten wie: "Nim von eim kalbermocken, allwo kein Bein ist, hauw die haut und feisste darvon, und zerschnid dann das fleisch zu blätzlin", und so fort. Auch ein Glossar am Ende der Transkriptionen hilft da nicht vollständig weiter, ganz abgesehen davon, dass es durchgehend schwierig ist, den Angaben kochtechnisch zu folgen.
An die Sprache kann man sich immerhin überraschend schnell gewöhnen. Die Herausgeberinnen folgen den Kapiteln des Manuskripts von 1699, treffen aber bei den Rezepten eine Auswahl, bei der - man ahnt es - vieles von dem, was das Interessanteste wäre, bedauerlicherweise weggelassen wird, weil es zu ungewöhnlich sei. "Aus heutiger Sicht", heißt es da, "findet sich reichlich Kurioses unter den Rezepten." Und vorher: "mal wird ein Hirn zerdrückt, aufs Brot gestrichen und im Ofen gebacken. Der Schweinskopf wird mit zerstoßenem Kohlepulver 'morenschwarzt' gekocht. Es gibt Lungenmus, und aus Schafs- oder Schweineblut werden kleine Krapfen gebacken."
Die mit immer weniger verschiedenen Produkten arbeitende Mainstream-Küche von heute mag da weit entfernt sein. Die skandinavischen Kreativen (vor allem Magnus Nilsson, etwa mit "Wildforellenrogen in einem warmen Teigschälchen mit getrocknetem Schweineblut") sind dagegen sehr nah. Im Buch wäre es zudem eine Hilfe gewesen, wenn man die verwendeten Rezeptbeschreibungen ins zeitgenössische Deutsch übersetzt hätte.
Sodann kommt es zu einer Art kulinarischer Transkription, also zu dem Versuch, die Rezepte sowohl in die aktuelle Welt der Produkte wie in konkrete Angaben hinsichtlich der Mengen und Kochverfahren zu übertragen. Hier fehlt eindeutig eine ausführlichere Diskussion der durch die alten Rezepte entstehenden Variablen und die Begründung dafür, dass man sie in die präsentierte Form übertragen hat. Natürlich entstehen auch ohne solche Begründungen essbare Gerichte, die aber im Vergleich zur Quelle durchaus unterschiedlich ausfallen könnten. Da scheint dann doch die kulinarische Sozialisation der Autorinnen bisweilen einen stärkeren Ausschlag zu geben als die Nähe zur Quelle. Die Kurzkommentare - wie etwa "dank den wohldosierten Gewürzen entsteht mit einer sehr einfachen Zubereitung eine festliche Speise" - legen das nahe: Es gibt im Original keine "wohldosierten" Mengenangaben, die Festlegungen im Rezept stammen von den Autorinnen. Sie sind also zu einem beträchtlichen Teil stillschweigend vorgenommene Interpretationen. An dieser Stelle kann man vielleicht an "Frau Johannas Biedermeier-Kochbuch" erinnern, das Andrea Karrer und Johannes Hradecny 2011 herausgaben und in dem die Rezepte umfangreicher bedacht und kommentiert werden.
Was bleibt, ist aber ein schön gemachtes, immer unterhaltsames Buch über eine Quelle, die man - wie andere auch - nie als historisch im Sinne von "überholt" ansehen sollte. Die nicht präzisierten Variablen, etwa die verwendeten Garungen, können - das wissen wir heute dank vieler kreativer Köche besser denn je - auch Teil hochinteressanter, neuartig wirkender Geschmacksbilder sein. Wir wären dann diejenigen, denen im Laufe der Zeit sehr viel kulinarisches Wissen und die Wertschätzung für viele Produkte und Zubereitungen abhandengekommen ist. Es würde sich lohnen, noch tiefer in diese Materie einzudringen. JÜRGEN DOLLASE
"Das Kochbuch der Kittin von 1699". Hrsg. von D. Schmid, M. Imhof, H. Arnet und S. Vögeli.
Hier und Jetzt Verlag, Zürich 2023. 294 S., Abb., geb., 49,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main