nach Moskau, er muss ihn abholen und gefällt sich in der Souveränität dessen, der schon länger in der Hauptstadt wohnt. Nur hat Sascha bei aller Freundschaft nicht viel Lust, sich mit Max zu beschäftigen. Er will die ganze Zeit an "SIE" denken und sucht nach dem geeigneten Moment, "SIE" anzurufen. "SIE", die nur in Großbuchstaben durch seinen Kopf und den gesamten Roman geistert. "Ich halt's nicht mehr aus! Lieber Gott im Himmel! Warum hab' ich mich so verliebt?!"
Weil eben nie alles so einfach ist, wie ein Verliebter sich das vorstellt, ist die Dame erst mal nicht zu erreichen. Später sagt sie ein Treffen ab. Seine Gefühle freilich schmälert das nicht. Zwischen der Euphorie steht ein normaler Arbeitstag: Ärger auf der Baustelle, Empörung über einen Kollegen. Und dann bemerkt Sascha, dass ihm jemand folgt und jeden seiner Schritte überwacht. Derjenige gibt sich so wenig Mühe, das zu verbergen, dass jegliche Aufregung unangebracht ist. Sascha hilft Max deshalb lieber bei der Suche nach "Ausschweifungen", die in sehr viel Wodka und der Suche nach dem nächsten Lokal bestehen, quer durchs winterliche Moskau.
Dass der Autor Jewgenij Grischkowez sich mit Theaterstücken einen Namen gemacht hat, ist der Erzählweise kaum anzumerken. Er beschreibt alles so detailliert, als hätte er jahrelang schweigen müssen. Nur bei der Dialogform, die immer wieder auftaucht, zeigt sich der Theaterdichter. In diesen Szenen redet sich Sascha regelrecht in Rage, ob über Geld, Zigarren oder den albernen Bart seines Freundes.
Eine besondere Stimmung prägt diesen Roman. Einerseits ist er so melancholisch wie das "Hemingway-Spiel", das die beiden Freunde ersonnen haben: Man geht gemeinsam aus und umgarnt Frauen, indem man unglaublich charmant, aber zurückhaltend ist und sich den Anschein großer Verletzlichkeit gibt. Am Ende des Abends setzt man sie ganz ehrenhaft in ein Taxi, das sie nach Hause zu ihren Ehemännern fährt, ohne auch nur Telefonnummern auszutauschen. Andererseits zieht sich ein leicht pathetischer Überschwang durch die Seiten, charmante Gefühlsausbrüche, die indes niemals peinlich oder kitschig werden. Sie handeln auch nicht ausschließlich von der Angebeteten, sondern bejubeln vor allem das Leben. Einmal erinnert sich Sascha an die gemeinsame Zeit in der Kleinstadt zurück, in der er sich nach langen Nächten zum Katerfrühstück mit Max traf - weil die Frauen ohnehin sauer waren. Bei Konterbier, Wodka und Soljanka regenerierten sich ihre Organismen langsam, bis sich allmählich der Schleier von der Umgebung hob und die beiden die Welt wieder wahrnehmen konnten. Dann kam stets "ein Gedanke, der das Herz ganz, ganz hoch fliegen lässt: ,Vor dir liegt noch ein langer Abend, und morgen ist Sonntag! Glück! Und der Sommer hat erst angefangen! Gott! Wie schön! Ein freier Tag!'" Melancholie plus Überschwang: Das ist die sprichwörtliche russische Seele, zwischen Buchdeckel gefasst.
Hinzu kommt ein unaufdringlicher Witz, der vor allem in Saschas Erzählungen über sein Leben aufblitzt. Zum Beispiel über seinen Heimtrainer, den er zwar nur als Kleiderständer benutzt, seit dessen Anschaffung sich jedoch alle Gedanken an Sport erledigt haben. "Das Ding stand neben meinem Bett und schien zu sagen: ,Alles sinnlos.'"
Sascha scheint fest in seinem Alltag und seiner Zeit verwurzelt, doch Träume bringen dieses Bild zum Wanken: Im Schützengraben, auf einer Schiffsbrücke oder in einem Militärzug befindet er sich, sobald er einnickt. Stets ist er dort mit seinem Freund Max, es ist gefährlich, und nie wird klar, ob das nun Rückblenden sind oder seiner Phantasie entsprungene Szenarien. Vieles spricht für die blühende Phantasie. Schwungvoll und frisch hat Grischkowez seine Geschichte aufgeschrieben. Und Beate Rausch übersetzte das Stakkato von Saschas Zornesausbrüchen ebenso gewandt wie die schmetterlingshaften Liebesgedanken und die gelegentlich auftauchende Jugendsprache.
JULIA BÄHR
Jewgenij Grischkowez: "Das Hemd". Roman. Aus dem Russischen von Beate Rausch. Ammann Verlag, Zürich 2008. 267 S., geb., 19,90 [Euro].
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