andere Institutionen der Zivilgesellschaft, abnehmende Handlungsfähigkeit der Politik. Diese Trendaussagen sind teils falsch, teils in hohem Maße strittig. Zusammengenommen, ergeben sie aber ein so geschlossenes Bild, daß es durch entgegenstehende Einzelbefunde schwerlich zu erschüttern ist. Die Annahmen, die es enthält, werden kaum komparativ und im Zeitvergleich geprüft, sondern mit "rechten" oder "linken" politischen Urteilen kurzgeschlossen. (Dies gilt hierzulande vielen als "kritische Wissenschaft".)
Auch die Tagungsbeiträge im vorliegenden Band, initiiert von einer "Interdisziplinären Forschungsgruppe für multiethnische Konflikte" an der Universität Bielefeld, bleiben zum Teil in vertrauten Vorannahmen und reproduktiven Zirkeln der Argumentation. Daß trotzdem nach der Lektüre der Eindruck vorherrscht, die Engführung und verständliche Beklemmung der deutschen Debatte über die brisanten Fragen von Konflikten, Ethnizität und Gewalt weiche zusehends einer offeneren Betrachtungsweise, ist neben einzelnen Autoren wohl hauptsächlich dem Herausgeber und Spiritus rector des Unternehmens, Wilhelm Heitmeyer, zu danken.
Der Bielefelder Sozialwissenschaftler hat sich mit empirischen Studien zu Rechtsextremismus und Gewalt bei Jugendlichen profiliert und ist mit der sogenannten "Desintegrationsthese" hervorgetreten. Sie besagt, daß der Zuwachs an fremdenfeindlichen, gewaltakzeptierenden und rechtsextremistischen Orientierungen durch soziale, berufliche und politische Krisenerscheinungen zu erklären sei, die auch zentrale gesellschaftliche Institutionen lähmten.
Um diese Idee herum ist das Buch organisiert. Eine Vielzahl von Autoren läßt eine Vielzahl von Institutionen - Parteien und soziale Bewegungen, Unternehmen und Gewerkschaften, Schule, Jugendarbeit, Massenmedien, Kirchen, Polizei, Verfassungsschutz und Strafjustiz - Revue passieren. Und in der Tat, sie alle haben ihre Probleme mit Modernisierungs- und Migrationsprozessen. Die besten Beiträge erhellen sowohl die Dilemmata der Institutionen als auch den komplexen Charakter von Konflikten.
So arbeitet Klaus Dörre anhand von Gesprächen mit jungen Arbeitern heraus, daß "Kategorien wie Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit nicht den Kern der beschriebenen Bewußtseinsform (treffen). Es geht nicht um ,die' Ausländer oder um kulturelle Differenzen schlechthin, sondern um Bündnisse der Produktiven gegen vermeintlich ,parasitäre' Versorgungsansprüche". Die von Bildungsbürgertum und Meinungsforschung erschaudernd konstatierten "rechtsextremen Inhalte", die auch bei jungen Gewerkschaftern zum Ausdruck kommen, lassen sich nicht (wie üblich) platt auf "Fremdenfeindlichkeit", "Wohlstands-Chauvinismus" oder Konkurrenz- und Interessenkonflikte zurückführen. Hinter verletzten Interessen und Mißachtungserfahrungen verbirgt sich, wie Dörre in einer genauen Analyse zeigt, eine Gerechtigkeitsvorstellung, "eine moralische Dimension des Kampfes. Den porträtierten jungen Arbeitern geht es auch um eine adäquate Würdigung ihres persönlichen Beitrags zum gesellschaftlichen Ganzen, um soziale Wertschätzung." Die Gewerkschaften stehen damit, wie der Autor meint, vor der Aufgabe, eine "an Gerechtigkeitsprinzipien orientierte Antwort auf den neuen, mehrdimensionalen Verteilungskonflikt zu finden".
Auch Martin Baethge, der die Stellungnahmen der Wirtschaft gegen Fremdenfeindlichkeit analysiert und der "Weltoffenheit des Kapitals" die scheinbare "nationalistische Borniertheit" der Arbeiterschaft gegenüberstellt, nimmt "Abschied von einfachen interessensoziologischen Erklärungsansätzen", weist auf die "Undeutlichkeit des Phänomens", auf aktive und latente Dimensionen von Fremdenfeindlichkeit, auf kollektiven Statusverlust der Arbeiterschaft und auf "tiefere Kränkungen des Selbstbewußtseins", also auf Identitätsprobleme hin.
Zu den lesenswerten Aufsätzen in dem Sammelband gehört Hans-Gerd Jaschkes differenzierte Darstellung der Polizei als einer "verunsicherten Institution". Der Verfasser macht verständlich, wie sich auf der einen Seite in der alltäglichen Konfrontation der Polizei mit Migrationsproblemen fremden- und politikkritische Erfahrungsurteile bilden, wie andererseits die vorrangig demokratische Orientierung der Beamten die Beseitigung sozialer Ungleichheiten einfordert (und damit im Kern den Gerechtigkeitsvorstellungen junger Arbeiter gleicht).
Die Dilemmata der Strafjustiz werden systematisch und klar von Otto Backes dargestellt. Er kommt zu dem Schluß, daß jugendliche Gewalttäter, auch wenn sie "nur" eine von Erwachsenen geschaffene fremdenfeindliche Atmosphäre zum Ausdruck bringen, mit Härte zu verurteilen seien, um Normverletzungen zu verdeutlichen, daß aber höhere Freiheitsstrafen die Ausgrenzung dieser Jugendlichen nur vorantreiben würden.
Über unbeabsichtigte Folgen der Gewalt-Berichterstattung in den Medien reflektiert Uwe Sander: Auch engagiert gegen Gewalt gerichtete Sendungen können das Gegenteil ihrer Absichten bewirken, da diese sich an den Absichten und Einstellungen des Publikums brechen und der ungewollt popularisierten Gewalt Auftrieb geben können. "Political correctness" sieht der Autor als einen Versuch, das Dilemma zu lösen: Sprachverbote treten an die Stelle früherer Bildverbote.
Ungemein lehrreich sind auch die Beiträge von Rainer Dollase und Dietmar Loch. Ersterer stellt als Sozialpsychologe soziometrische Forschungsergebnisse zur multiethnischen Integration von Gruppen vor; dabei zeigt sich, daß das universal verbreitete Prinzip der Ähnlichkeitsattraktion ("gleich und gleich gesellt sich gern") sowohl intra- wie interkulturell gilt. Die bisher vorliegenden Studien, meist aus den Vereinigten Staaten, geben keinen Anlaß, einen dramatischen Anstieg von Konflikten zu befürchten, wenn der fremdkulturelle Anteil in einer Gruppe steigt. Aber: "Will man aus den zum Teil inkonsistenten Forschungsresultaten eine extrem risikoarme und konfliktvermeidende politisch-pädagogische Konsequenz ziehen", so müßte diese lauten, daß die Chancen einer interkulturellen Integration besser sind, solange die fremden Kulturen in einer Gruppe in der Minderheit sind.
Diese Einsicht wird, wie Loch am französischen Beispiel schildert, in den Ballungsgebieten der Vorstädte von den Wohnungsämtern beherzigt. Inoffiziell quotieren, also diskriminieren sie gegen wachsende ethnische Minderheiten - aber nicht mit dem Ziel der Diskriminierung, sondern der Integration, wie auch Vertreter der französischen Anti-Rassismus-Organisation SOS-Racisme befinden. Das offizielle französische Modell der "Farbenblindheit" und "Assimilation", das als unbeabsichtigte Folge eine De-facto-Diskriminierung kultureller Andersartigkeit nach sich zieht und zugleich übersieht, wird so in der praktischen Politik der Institutionen, insbesondere der Städte, durch pragmatischen Zugang und lange Erfahrungen mit ethnischen Minderheiten korrigiert.
Es sind vergleichende, differenzierende Beobachtungen dieser Art und Einsichten in Dilemmata, die das Buch in weiten Teilen lesenswert machen. Sie führen aus der Kirchturmperspektive, den Prinzipienreitereien und Denunziationen der deutschen Diskussion hinaus. Das Buch beabsichtigt keine systematische Prüfung des "Desintegrations-Theorems", enthält aber Hinweise, die es in Frage stellen: Fremdenfeindliche Orientierungen und Gewalt, so zeigt sich empirisch, werden weniger von desintegrierten "Modernisierungsverlierern" und Arbeitslosen als von aufstiegsorientierten Milieus und integrierten Facharbeitern getragen. Der wissenschaftliche Disput, der über die Desintegrationsthese in Gang kommt, ist fruchtbarer als die Erwartung, man müsse mit ihr immer richtigliegen.
Auch sind die analysierten Dilemmata der Institutionen nicht ohne weiteres als Erscheinungen der Desintegration, sondern eher als paradoxe Begleiterscheinungen von Modernisierung zu deuten. Paradoxien und Konflikte, so unangenehm sie sind, enthalten ihre produktiven und integrativen Momente. Die Frage "Nehmen die ethnisch-kulturellen Konflikte zu?", unter der Heitmeyer gegen Ende des Buches eine Forschungsperspektive entwickelt, braucht deshalb nicht gefürchtet zu werden. Sie verlangt keine politisch korrekte Antwort, sondern die wissenschaftliche Anstrengung unabhängiger Geister und die Wachsamkeit und Zuversicht pragmatisch handelnder Politiker. KARL OTTO HONDRICH
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