Zweifelsfalle stets als Erstes. So werden unter extremen Hungerbedingungen die inneren Organe bis um 40 Prozent leichter. Das Gehirn zehrt indes nicht aus - es verliert allenfalls bis zu zwei Prozent Gewicht. Schon das Ungeborene im Mutterleib braucht die Hälfte aller Energie für sein Gehirn. Ein Erwachsener muss seiner Nervensteuerzentrale pro Tag eine Tasse Zucker zubilligen, von durchschnittlich 200 Gramm Glukose beansprucht das Gehirn allein für sich selbst täglich 130 Gramm.
Glukose ist die einzige Energiewährung, die das Gehirn akzeptiert - von Ketonkörpern im Hunger einmal abgesehen. Aber es kann diesen Zucker nicht selbst herstellen, ist mithin darauf angewiesen, dass er vom Blut durch die Bluthirnschranke ins Gehirnwasser und zu den Nervenzellen gelangt. Um das zu gewährleisten, gibt es den Brain-pull - das Gehirn zieht Glukose aus dem Blut. Der ist bedeutsam, weil bei Unterzuckerung, wenn Glukose im Gehirn knapp wird, Ohnmacht und Koma drohen. Bei alldem ist der Umstand entscheidend, dass das blutzuckersenkende Hormon Insulin zwar dazu nötig ist, Zucker aus dem Blut in andere Organe zu transportieren. Das Gehirn nimmt indes unabhängig vom Insulin Zucker auf. Das erlaubt ihm, von hohem Blutzucker zu profitieren. Es ist, was das angeht, zudem mit einer Machtfülle ausgestattet, die dem übrigen Körper nicht immer guttut. Denn wenn der Brain-pull nicht richtig arbeitet, im Gehirn nicht genug Glukose ankommt, kann dieses selbstherrlich über eine ausgeklügelte Hormon-Botenstoff-Befehlskaskade den Blutzucker erhöhen. Notfalls wird dann eben der Body-pull aktiviert, der Organismus führt Nahrung zu, oder schließlich der Such-pull, er geht auf Nahrungssuche. Heutzutage ist das Einkaufen. In jedem Fall, so Peters, beginne das übermäßige Essen mit einem gestörten Body-pull. Wenn der funktioniere, esse niemand zu viel, egal, welches Nahrungsangebot zur Verfügung stehe.
Das Konzept hat an jenen Punkten viel für sich, wo es die Widersprüche herkömmlicher Hypothesen offenlegt. So lässt sich kaum verstehen, warum Übergewichtige ständig immer mehr essen, wo sie doch sogar einen überhöhten Blutzucker aufweisen und überdies ihre Fettdepots übervoll sind. Das müsste eigentlich den Appetit im Zaum halten. Das versteht man viel besser, wenn man erkennt, dass an der entscheidenden Stellschraube, nämlich im Gehirn, zu wenig vom Überangebot ankommt. Peters weist mit Recht auf das entscheidende Dilemma der modernen Insulintherapie unter dem Postulat "normaler" Blutzuckerwerte hin. Insulin schaufelt die Glukose in die Organe und sorgt für ständig wachsende Energiedepots, aber im Gehirn kommt nicht genug an. Dieses spürt Mangel, kann es doch bei defektem Brain-pull nur mit überhöhten Blutzuckerwerten froh werden.
Der Diabetiker isst umso mehr. Die Insulintherapie zwingt ihn gleichsam, noch mehr zuzunehmen. Das ist ein klinischer Befund, den Diabetesfachärzte nur zu gut kennen. Unmittelbar leuchtet so dem übergewichtigen Laien auch ein, dass er mit jedweder Diät einen Krieg beginnt, in dem er allenfalls einzelne Schlachten gewinnen kann. Das Gehirn ist auf Dauer ein unerbittlicher Gegner, es kann die Ressource Glukose nicht versiegen lassen.
Insofern lässt sich aus diesem Buch viel lernen, gerade weil deutlich wird, dass die Deutungshoheit über die Entstehung von Übergewicht und Diabetes von verschiedenen Schulen beansprucht wird. Der Leser sollte dafür auch so manche bemüht klingende Metapher, die nicht wirklich stimmig ist, in Kauf nehmen, ebenso die zum Teil wenig erhellenden Verweise auf schöngeistige Literatur. Ein echter Nachteil ist indes der Versuch, mit Brain-, Body- und Such-pull letztlich alles zu erklären.
Neue Hypothesen wirken euphorisierend - sie sind gleichwohl ebenfalls nur Konstrukte, die so manches, aber eben nicht alles besser erklären. So gibt es beispielsweise Kinder, die mit einem angeborenen Mangel eines Glukose-Transportergens geboren werden, so dass ständig zu wenig Glukose in ihr Gehirn gelangt. Sie essen keineswegs ungezügelt und sind auch nicht übergewichtig, die Krankheit zeigt sich ganz anders. Sodann kann das Konzept nicht wirklich erklären, warum wir seit den letzten Jahrzehnten eine Adipositasepidemie nie gekannten Ausmaßes beobachten. Es müsste also Umstände geben, die heute den Brain-pull um ein Vielfaches häufiger stören als je in der Geschichte der Menschheit zuvor.
Als Ursache eines gestörten Brain-pulls nennt Peters zum Beispiel seltene Hirnkrankheiten, Tumore oder Schlaganfälle. Das allein reicht jedoch nicht, das grassierende Übergewicht zu erklären. Daher soll es der Stress sein, der das flächendeckende Versagen des Brain-pull beim modernen Menschen erklärt, und hier überzeugt das Buch am allerwenigsten. Denn unsere Vorfahren hatten auch Stress und wurden überwiegend nicht dick. Da reicht auch nicht, wenn sich der Autor als vergleichender Paläoanthropologe versucht: Den Steinzeitstress mit dem Säbelzahntiger habe man durch Flucht oder Kampf abbauen können, bei Mobbing im Büro und künstlichem Stress durch Computerspiele sei das eben schwieriger. Außerdem listet der Autor selbst Stressursachen wie Krieg, Verlust von nahen Angehörigen, ungewisse Zeitläufte, Angst um den Broterwerb, beengte Wohnverhältnisse auf, die man sicher auch in anderen Zeitaltern ausmachen kann. Man darf eben den Umstand nicht übersehen, dass heutzutage anders als je zuvor allenthalben billige Süßwaren und rasch anflutende Kohlenhydrate für jeden erreichbar sind und ständig zur Verfügung stehen. Das ist in Kombination mit einem egoistischen Gehirn womöglich eine denkbar ungünstige Konstellation.
MARTINA LENZEN-SCHULTE
Achim Peters: "Das egoistische Gehirn. Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft". Ullstein Verlag, Berlin 2011, 256 S., 19,99 Euro.
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