Bildungsfernen.
Sein Bildungsweg grundiert das Buch. Der Sprung auf eine Klosterschule ist ihm gelungen, aber weil das Geld für Nachhilfe fehlte, fiel er durch und musste auf eine Realschule; dort startete er durch, zurück ans Gymnasium, Abitur, Studium, Promotion. Diese sehr persönliche Herangehensweise mündet in einem Dilemma. Denn Preisendörfer oszilliert zwischen autobiographischen Reminiszenzen und Aufsatztrockenfutter aus fünfzig Jahren Bildungspalaver. Über aktuelle Anschauung aus dem Schulalltag verfügt er nicht. Das gibt dem Unternehmen einen papiernen Anstrich, schwächt den Text auch an den Stellen, wo er Bedenkenswertes in die Debatte wirft.
Also auf in den Klassenkampf, weil das Elend die deutsche Bildungslandschaft regiert. Diesen Beweis tritt Preisendörfer in historischen Exkursen an, Ralf Dahrendorf hat es ihm angetan, den er als liberalen Säulenheiligen immer wieder anruft. Die "Bifs" und die "KoZ" (Kinder ohne Zukunft) werden, ohne dass sie es merkten, von der Mittelschicht von der Bildung ferngehalten - schlimmer noch: Sie halten sich selber fern. Aber selbst wenn ein "Bif" - wie weiland der Autor - zur Bildung strebt, lauert die nächste Gefahr. Das Kind, der Jugendliche entfremdet sich von seiner Herkunft, das ist der Preis für den Aufstieg, ein dem zügellosen "Klassismus" geschuldeter Tribut, der obendrein das Gefühl der "sozialen Minderwertigkeit" evoziert. Medial spiele dieser Prozess keine Rolle oder nur, wenn er mit einem Migrationsthema zu verknüpfen ist, klagt Preisendörfer. "Die Unterschichten sind mental zu derangiert, um so etwas wie Bildungsneid überhaupt entwickeln zu können." So verharrt der doppelverdienende deutsche Facharbeiter in absichtsloser Unbildung, gut situiert, aber fern jenes Gutes, das ihn zur Freiheit führen könnte.
Am empirischen Befund ist aber nicht zu rütteln: Aus den sogenannten Arbeiterschichten erreichen viel zu wenig Kinder die Universitäten, das war vor Pisa so, das ist immer noch so. Und dass daran das dreigliedrige Schulsystem schuld ist, gilt als ausgemacht. Es vernachlässigt die "Begabungsgerechtigkeit", fördere stattdessen Marktchancen. Diese "Reproduktion von Ungleichheit" ist gewollt: "Die Bildungsaristokratie vererbt Begabung wie früher der Adel blaues Blut." Preisendörfer bleibt allerdings den Beweis schuldig, wie eine solche Genübertragung vor sich geht. Eben nicht nur durch Vererbung, sondern durch harte familiäre Bildungsarbeit - einen langjährigen Prozess, den frühere Generationen Erziehung nannten.
Eintausendsiebenhundert Stunden Vorlesen sind einem Akademikersprössling bis zur Einschulung vergönnt, ganze dreißig sind es bei einem Arbeiterkind. Bis zum dritten Lebensjahr erhalten Kinder aus der Mittelund Oberschicht 500 000 Ermunterungen und 80 000 Entmutigungen: Sozialhilfeempfänger ermutigen nur 75 000 mal, aber entmutigen 200 000 mal. Weshalb der Autor für eine Bevorzugung von "Bifs" bei gleicher schulischer Leistung plädiert. Wer wohl über Zugehörigkeit zur "Bif"-Gruppe entscheiden soll? Im Gegenzug desavouiert er den Einsatz der Eltern, spottet über "gehobene Nachhilfemuttis". Das sind offenbar tiefe Wunden, die hier geleckt werden - Preisendörfers unfreiwilliger Abstecher auf die Kaufmännische Realschule. Auch sie, wie er findet, eine abgewirtschaftete Schulform (mit einer Ausnahme: Bayern).
Richtig ärgerlich wird das Buch dort, wo es sich zu der der psycholinguistischen Mottenkiste entrissenen These versteigt: "Dialekt macht dumm" - aber zum Glück sei das Thema durch das Aussterben der Dialekte bald erledigt. Was an Sprachreichtum in den Dialekten schlummert, sollte sich einer, der als Schriftsteller seinen eigenen IQ (115) ins Schaufenster stellt, nicht entgehen lassen. Auch dass heute noch Latein und Altgriechisch unterrichtet werden, subsumiert Preisendörfer unter der "Türhüterfunktion des Bürgertums". Natürlich fehlt nicht der Hinweis, das deutsche "Apartheidsystem" verteile die Chancen zu früh, am unteren Ende der Skala rangiere mit der Hauptschule eine "Restschule für Ausländerkinder". Auch hier diagnostiziert Preisendörfer Klassismus und weniger Rassismus.
In einer anderen Wirklichkeit flüchten die Eliten längst aus dem staatlichen System in Privatschulen. Erstaunlich, dass gerade Vertreter des linksliberalen Establishments dies tun, haben doch ihre ideologischen Vorväter erst die allgemeine Schulpflicht durchgefochten. Dass sie ihr Elternrecht verteidigen, erkennt Preisendörfer an, aber er deutet es als Privilegienkampf für die nächste Generation. Jeder, der in diesen Jahren Elternabende erlebt, weiß es besser: Das Schlimmste sind natürlich die Eltern - aber sie sind es nicht grundlos. Durch die Pisa-Studie hysterisiert, misstrauen sie dem Schulsystem, die Anforderungen der Globalisierung bestehen zu können. Nach den Kindergärten mit englischsprachigen Erzieherinnen befürworten sie fremdsprachigen Erdkundeunterricht, fordern Schul-Rankings und evaluierte Lehrer. So kreischen die Abstiegsängste der Funktionseliten.
Pädagogik kann, darin ist dem Autor zuzustimmen, niemals ein Marktprodukt sein. Ökonomisierung und weitere Aushöhlung des Bildungssystems sind absehbar, helfen wird dies alles nicht. Leider hat Bruno Preisendörfer am Ende auch keine rettende Idee. Analog zum Bürgersinn hofft er auf einen Bildungssinn, der mit den Mechanismen der Frauenbewegung zu implementieren sei; auch eine "allgemeine Vorschulpflicht" hält er für denkbar. Wagen wir eine andere These: Die Fundamente für Chancengleichheit ließen sich auch noch in der Grundschule legen: Wenn am Ende der vierten Klasse gewährleistet wäre, dass alle Kinder mündlich wie schriftlich über solide deutsche Sprachkenntnisse verfügten und die Grundrechenarten beherrschten, wäre viel gewonnen. Den nächsten Schritt können dann ausdifferenzierte Schultypen gehen, die am Ende verschiedene Wege an die Hochschule offenlassen.
Bruno Preisendörfer: "Das Bildungsprivileg". Warum Chancengleichheit unerwünscht ist. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2008. 192 S., br., 16,95 [Euro].
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