mimetischer deutscher Stimme, übersetzt vorliegt. Während mehr als dreitausend Seiten handschriftlicher Notizen aus dem Nachlass von Gracq noch bis 2027 gesperrt sind, gilt diese Sperre nicht für Erstfassungen publizierter Werke oder für Fragmente wie dieses. Entstanden ist es in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, in jener Zeit, als Gracq für seinen ersten Roman, "Das Ufer der Syrten", den Prix Goncourt abgelehnt hatte.
Julien Gracq war seit je mit dem befasst, was er in einem anderen Gespräch als "die Arbeit im Gelände" bezeichnet hat, die ihm "von Anfang an sehr gefallen" habe. Diese Aussage bezog sich zwar auf sein Studium der Geographie - bekanntlich war Louis Poirier, der sich als Autor Julien Gracq nannte, Lehrer für Geographie und Geschichte und auf die Einkünfte aus seinen Büchern nicht angewiesen -, darf aber umstandslos auf seine Literatur übertragen werden. Sie gilt auch für das Romanfragment.
Worum geht es darin, genauer: worum geht es alles nicht? Ähnlich wie im "Ufer der Syrten" ist ein Reich bedroht, ebenjenes titelgebende Abendreich, von dem es gleich im ersten Satz heißt: "Im Grunde lebten wir gut." Alt-Brega heißt die Hauptstadt dieses dystopischen Landes, an dessen Grenzen die Barbaren stehen, die zwei Unterhändler, die Alt-Brega zu ihnen geschickt hatte, ohne viel Federlesens einfach geköpft haben. Dennoch hat diese Konstruktion nicht das Geringste mit Pegida-Ängsten vor dem Untergang des Abendlands zu tun. Es geht nicht um geschichtsphilosophische Konstruktionen oder verschlüsselte politische Botschaften. Zwar ist Gracqs Bewunderung für Jüngers "Auf den Marmorklippen" bekannt, aber den Zeitpunkt, an dem er sich von der Politik und etwaigen damit verbundenen Hoffnungen für immer abgewandt hat (Gracq war kurzzeitig Mitglied der KPF), hat er selbst präzise benannt: Seit dem Hitler-Stalin-Pakt habe er "nicht den geringsten Glauben an die Politik aufbringen und sie nicht einmal als ein seriöses Betätigungsfeld für den Geist betrachten" können. Auch um den Kampf als inneres Erlebnis, um noch einen Augenblick bei Jünger zu bleiben, geht es Gracq nicht. Zwar macht sich im Buch eine kleine Schar auf den Weg, um den Kampf aufzunehmen. Doch diese Schar ähnelt eher Tolkiens "Gefährten". "Der Herr der Ringe" erschien in England, während Gracq an diesem Roman arbeitete; gelesen - und sehr geschätzt - hat er das Werk des Kollegen aber erst viel später. Von Einfluss kann man also nicht sprechen, wohl aber von Wesensverwandtschaften, die in Bezug auf den phantasievollen Aufbau und die liebevolle Ausmalung eines imaginären Reiches erstaunlich ausgeprägt sind.
In seinem Roman erweist sich Gracq durchaus als begabter Fantasy-Autor. Zeitlich ist seine Geschichte nicht festzulegen. Im Nachwort siedelt Hornig sie irgendwo zwischen Mittelalter, Renaissance und achtzehntem Jahrhundert an. Die Gefährten jedenfalls machen sich auf Pferden auf den Weg; die Wirtschaftsweise mutet vorkapitalistisch und weitgehend agrarisch an. Die Waffentechnik scheint immerhin auf dem Stand (früh-) neuzeitlicher Feuerwaffen zu sein.
Die Landschaft ist im Gegensatz zum "Ufer der Syrten" nördlich geprägt. Allerdings ziehen sich die wohlhabenden Bewohner von Alt-Brega vor der wiederkehrenden Hitzewelle jedes Jahr in einen höher gelegenen Ort zurück. Das Land hat offenbar die unterschiedlichsten Landschaftsformen aufzuweisen: Gebirgszüge, Steppen, Küstenregionen, oft mit keltisch anmutenden Namen belegt, und der Leser hat jede Freiheit, Gracqs Schilderungen für sich weiter auszumalen.
Bei allen Parallelen zwischen Mittelerde und dem Abendreich gibt es jedoch einen entscheidenden Unterschied: Geht es bei Tolkien, kurz und knapp gesagt, um den Kampf gegen das Böse schlechthin, verbunden mit regelrechten Vernichtungsschlachten, so bleibt Alt-Bregas Kampf gegen die Barbaren an der Grenze merkwürdig verhalten und ziellos, beinahe eine drôle de guerre, wie Gracq sie als Offizier anfangs des Zweiten Weltkriegs selbst erlebt hatte. Zwar gibt es Schilderungen einzelner Scharmützel und auch solche scheußlicher Grausamkeiten der Barbaren, aber diese Episoden haben eher die Funktion, die Handlung wenigstens ansatzweise voranzutreiben.
Den zweiten Teil des Buches nehmen die Aufzeichnungen des Ich-Erzählers in Anspruch, eine Art Tagebuch. Es ist kein Zufall, dass dieser Ich-Erzähler, bevor er mit seinen Gefährten aufgebrochen ist, um den - von vornherein aussichtslosen - Kampf aufzunehmen, im Katasteramt von Alt-Brega beschäftigt war. Es geht, auf registratorischer wie juristischer Ebene, also wieder einmal um die Arbeit im Gelände, wie immer bei Julien Gracq.
Entsprechend bleiben alle Figuren außer dem Erzähler auch merkwürdig blass, nicht aber aus Unvermögen des Autors, sondern weil sie nicht im Zentrum dieses Romans stehen. "Der Mensch" ist in Julien Gracqs Werk nicht wirklich von Interesse. Dieser Autor war ganz gewiss kein Humanist. Was er über Foucault gedacht, ob er ihn überhaupt wahrgenommen hat, ist nicht bekannt. Bekanntlich stand Gracq der Pariser Szene mit ihren Stars mehr als kritisch gegenüber. Den berühmten letzten Satz der "Ordnung der Dinge", der Mensch werde einst verschwinden "wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand", hätte er aber sicher unterschrieben.
Was Gracqs Werk dagegen von Anfang an auszeichnet, ist eine empathische Hinwendung und Liebe zur äußeren, physischen Welt, wie diese Sätze aus einem Gespräch bezeugen: "Ja, die Außenwelt existiert für mich. Und das sehr stark. Und dieses Gefühl einer sehr kraftvollen Existenz geht eher mit einem Ja einher als mit einem Nein." Deshalb kulminiert Gracqs Werk auch in seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Buch, "Der große Weg", das mit seiner literarischen Geographie diese Außenwelt immer wieder durchmisst.
Die Arbeit am "Abendreich" hat Gracq nach drei Jahren eingestellt. Er hatte irgendwann genug Welt gebaut und beschrieben, und das ist überaus lesenswert. Was er anfangs für seinen "Stoff" gehalten hatte, das untergehende Reich, lag ihm dagegen nicht genug am Herzen. Stattdessen schrieb er die Erzählung "Ein Balkon im Wald" - von seinen erzählenden Texten der schönste -, in dem der Fähnrich Grange auf der Suche nach den unbekannten Adern der Erde langsam aus dem Krieg verschwindet, diesmal einem historisch konkreten, dem von 1939/40. Am Ende erscheint ihm die Erde "schön und rein wie nach der Sintflut". "Gracqs einziger Protagonist ist die Erde in ihrer Schönheit", bringt es Dieter Hornig im Nachwort zum "Abendreich" auf den Punkt. Ob es dafür irgendwann noch Leser geben wird, steht auf einem anderen Blatt.
JOCHEN SCHIMMANG
Julien Gracq: "Das Abendreich".
Roman.
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Dieter Hornig. Literaturverlag Droschl, Graz 2017. 220 S., geb., 23,- [Euro].
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