dieses schlanken Debütromans der jungen kanadischen Autorin Marie-Sissi Labrèche, leidet an einer Persönlichkeitsstörung: "Meine Persönlichkeit", sagt sie, "hat Krebs: Eine Kugel, die in mir drin sitzt und sich von meinen Zellen ernährt, seit ich ganz klein bin. Ich bin borderline. Ich habe ein Problem mit Grenzen." Labrèches Roman hat dieses Problem leider auch. Er spinnt sich entlang der feinen Linie zwischen Neurose und Psychose, welche der Borderlinestörung ursprünglich ihren Namen gab, entfaltet sich aber zusehends zu einem Spektrum traumatischer Erlebnisse, die den Leser ebenso wie die Erzählerin in eine instabile Welt zwischen Wahn und Wirklichkeit zu stürzen drohen. "Borderline" ist ein aggressiver Roman, sprachlich hat er wenig zu bieten. Die angespannte Prosa wirkt in ihrer zur Schau gestellten Emotionalität nach einer Weile ermüdend: Wut und Verzweiflung sind hier von dem rasenden Tempo eines Schnellzugs, der seine Passagiere behutsam in den Schlaf schaukelt.
Denn der Verlauf von Sissis Persönlichkeitsstörung, der eiserne Weg, dem Labrèches Roman folgt, bietet keine Überraschungen. Vom frühen sexuellen Mißbrauch durch den Stiefvater ist die Rede, vom Selbstmord der gehaßten Mutter. Sissis Angst vor dem Verlassenwerden, vor dem Tod der Großmutter, bei der sie aufwächst, ist ebenso Teil dieser lehrbuchhaften Deklination der Borderlinestörung wie Sissis chronisches Gefühl von Leere und ihr obsessives Bemühen, Freundschaften zu knüpfen und Beziehungen aufzubauen. Als Éric sie schließlich mit seinen hungrigen Schafsaugen anschaut, ergreift sie wieder die Sehnsucht nach Liebe, das trügerische Gefühl, wenigstens gebraucht zu werden.
Was an sich eine seltene und daher interessante Geschichte erzählt, leidet vor allem an der Distanzlosigkeit, mit der die Erzählerin sich selbst reflektiert. Wo beispielsweise ein auktorialer Erzähler die Figur der Sissi im Kontext eines stabilen Panoramas hätte verankern und beobachten können, wo ein personaler Erzähler mit ihr in einen Dialog getreten wäre, in dem die Persönlichkeit der Borderlinerin an Profil gewonnen hätte, bleibt das Bewußtsein der von Marie-Sissi Labrèche gewählten Erzählerin ein allzu eindimensionaler und nur wenig verläßlicher Ort für die Romanhandlung. "Borderline" ist wie ein wildes Rauschen, unnachgiebig, undurchdringlich.
THOMAS DAVID
Marie-Sissi Labrèche: "Borderline". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. Verlag Antje Kunstmann, München 2002. 160 S., geb., 16,90 [Euro].
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