Jahrhunderte später eine weiße Farbschicht gelegt wurde, die gemäß dem Dogma der unbefleckten Empfängnis, das Papst Pius IX. 1854 verkündete, die Reinheit der Gottesmutter betont.
Die vielfach umgefärbte Skulptur ist eines der schlagendsten Beispiele, das Michel Pastoureau in seiner Geschichte der Farbe Blau für den historischen Wandel von Symbolgehalten findet. Der Autor, der schon zahlreiche Werke zur Kulturgeschichte von Farben, Tieren und Symbolen verfasst hat, lehrt an der "École pratique des hautes études" in Paris.
Pastoureaus Argumentation beruht auf der Annahme, dass Farben "kulturelle Gebilde" sind, keine naturwissenschaftlich objektiven Fakten. "Das Farbspektrum, der chromatische Kreis, der Begriff Primärfarbe", heißt es in der Einleitung, "sind keine ewigen Wahrheiten". Gestützt wird diese These von den gravierenden Unterschieden, die sich zwischen den Kulturen und ihren Sprachen auftun, wenn es um die Welt der Farben geht: Im Japanischen existiert beispielsweise ein großer Vokabelschatz für Weißtöne, der unter anderem matte und glänzende Nuancen voneinander absetzt. In Schwarzafrika lassen sich gar trockene von feuchten, weiche von harten und stumme von lauten Farben unterscheiden. Wie die wohl aussehen? Die Antwort bleibt der Phantasie des Lesers überlassen, denn das Buch enthält keine Abbildungen.
Das gilt auch, wenn Pastoureau vom Blaufärben von Stoffen berichtet. Dafür wurde entweder Waid, ein bereits von den Kelten kultivierter Kreuzblütler, oder Indigo, ein tropischer Schmetterlingsblütler, verwendet. Im Resultat sei Indigoblau intensiver als Waidblau, schreibt Pastoureau. Es ist anregend, ihm durch die Jahrhunderte zu folgen. Von der Antike bis ins elfte Jahrhundert spielte Blau in der Gesellschaft keine nennenswerte Rolle. Die klassischen Sprachen kannten nicht einmal ein Wort für die Farbe, weswegen man im neunzehnten Jahrhundert inzwischen widerlegte Mutmaßungen darüber anstellte, ob die Griechen und Römer "blaublind" gewesen seien. Noch im Frühmittelalter wurde der Himmel, den wir heute ganz selbstverständlich mit der Farbe Blau assoziieren, in der Literatur als weiß, rot oder goldfarben beschrieben. Woran das liegt? Pastoureaus Antwort bleibt schwammig: Die Symbolkraft des Blau sei zu schwach gewesen, um Vorstellungen auszudrücken oder Emotionen hervorzurufen.
Das Farbsystem sei jahrhundertelang ganz von Rot, Weiß und Schwarz bestimmt worden. Erst mit dem Hochmittelalter seien drei weitere Töne hinzugekommen: Gelb, Grün und Blau. Wie es zu dieser Erweiterung kam? "Einer neuen Gesellschaftsordnung muss eine neue Farbordnung entsprechen. Zwei Farbachsen und drei Grundfarben reichen nicht mehr aus." Vielfältigere Kombinationsmöglichkeiten seien nötig geworden, um Embleme und Repräsentationskodizes "neu zu organisieren". Aber was bedeutet das konkret? Pastoureaus knappe Schilderung bleibt hier zu oberflächlich.
Die manchmal mangelnde Tiefgründigkeit ist ein Nachteil, der sich aus einer eigentlich einnehmenden Eigenschaft des Buches ergibt: seiner Vielseitigkeit. Das Lesen wird nie langweilig, da sowohl technische als auch soziale und ikonographische Aspekte der Farbe Blau beleuchtet werden. Aus welchen Materialien wurden blaue Pigmente für Maler hergestellt? Ab wann stellten Künstler den Himmel in Bildern blau dar? Bei Angehörigen welcher Gesellschaftsschicht war in welcher Epoche blaue Kleidung beliebt? Welche abstrakten Eigenschaften - Trauer, Frohsinn, Wärme, Kälte - wurden zu welcher Zeit mit Blau assoziiert?
Pastoureau beantwortet diese Fragen in einem spannenden Parcours, aus dem die Farbe Blau letztendlich siegreich hervorgeht. Sie gilt heute als friedliche, konsensfähige Farbe, die das als aggressiv empfundene Rot weitgehend verdrängt hat. In der gesamten westlichen Welt ist Blau "seit mehreren Jahrzehnten die am häufigsten getragene Modefarbe". Und in noch einer Kategorie ist Blau Spitzenreiter: Seit dem Ersten Weltkrieg haben Umfragen konstant ergeben, dass die Hälfte der europäischen Bevölkerung Blau zur Lieblingsfarbe erkoren hat.
Michel Pastoureau: "Blau". Die Geschichte einer Farbe.
Aus dem Französischen von Antoinette Gittinger. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013. 176 S., geb., 10,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main